Kundgebung vor dem Stuttgarter Landtag gegen Berufsverbote
26. Februar 2016
Kundgebung, Landtag, Radikalenerlass, Rehabilitierung
„Wir kämpfen weiter bis zur Rehabilitierung der Betroffenen!“
Nach Dezember 2014 haben die Initiativgruppe „40 Jahre Radikalenerlass“ und die VVN/BdA am 17. Februar 2016 erneut eine Kundgebung vor dem Landtag durchgeführt. Anlass war die letzte Sitzung vor der Wahl, vor allem die Weigerung der Regierungsfraktionen von Grünen und SPD Mitte Januar, einen Antrag auf Rehabilitierung und Entschädigung der von Berufsverbot Betroffenen einzubringen, nachdem dies in einem „Runden Tisch“ Ende 2015 noch angekündigt worden war. Die Landesparlamente in Bremen und Niedersachsen haben 2011 und 2014 Beschlüsse zur politischen Aufarbeitung, Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen gefasst. In Baden-Württemberg hat dies an vorderster Front ausgerechnet der Grünen-Ministerpräsident Kretschmann verhindert: Allenfalls könne es zunächst eine wissenschaftliche Aufarbeitung und im Anschluss, nach Prüfung jedes Einzelfalls, eventuell Rehabilitierungen geben. SPD-Fraktionsvorsitzender Schmiedel hatte sich im Sommer 2015 zu der Ungeheuerlichkeit verstiegen, man wolle vermeiden, dass durch einen Beschluss auch Nazis rehabilitiert würden. Offensichtlich wollen sich politische Kräfte die Berufsverbote weiter offen halten. Der Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy, der 2007 erst nach drei Jahren und mehreren erfolgreichen Prozessen eingestellt wurde, wird bis heute, sogar verschärft, vom sich „Verfassungsschutz“ nennenden Inlandsgeheimdienst überwacht. Auch aus der Region Heidelberg / Mannheim war ein Gruppe von 14 Protestierenden nach Stuttgart gereist. Unter ihnen acht Betroffene, die als Linke ihren Beruf Lehrerin, Lehrer, wissenschaftlicher Assistent und Physiotherapeutin aufgrund ihrer Gesinnung nicht ausüben durften. Von den bundesweit über 250 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern der Erklärung „40 Jahre Radikalenerlass“ (Januar 2012) leben 17 noch in der Rhein-Neckar-Region. Fünf von ihnen wurden in den siebziger Jahren aus Existenzgründen Metaller und später in den Betriebsrat gewählt, darunter auch Reinhard Gebhardt (Mannheim). Er hatte zur Kundgebung seinen Rentenbescheid 2012 von nur 583 Euro brutto mitgebracht. (Der betreffende Heidelberger Metallbetrieb war nach 19 Jahren Betriebszugehörigkeit geschlossen worden.) Zumindest für diese Altersarmuts-Fälle fordert die Initiativgruppe eine materielle Entschädigung in Form einer Aufzahlung zur Rente, die in diesem Fall monatlich über 700 Euro (!) unter der sogenannten Standardrente liegt. Nach der Unterstützung durch GEW und DGB haben 2015 auch ver.di und IG Metall Gewerkschaftstags-Beschlüsse für die Aufhebung sämtlicher Berufsverbots-Erlasse, Rehabilitierung und Entschädigung gefasst. IG Metall-Bezirksleiter Roman Zitzelsberger und der Heidelberger Bevollmächtigte Mirko Geiger haben diese Forderungen Ende Januar in einem Schreiben an Ministerpräsident Kretschmann nochmals bekräftigt und die Einhaltung des entsprechenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Bestimmungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO verlangt. Martin Hornung (Heidelberg) hat auf der Kundgebung auch eine Grußbotschaft des Kollegen Zitzelsberger an die Versammlung verlesen. Kretschmann hat der IG Metall am Tag der Kundgebung schriftlich mitteilen lassen: „Dass der Staat bei Zweifeln an der Verfassungstreue eines Bewerbers eine Überprüfung vornimmt und gegebenenfalls von einer Einstellung absieht bzw. eine disziplinarrechtliche Prüfung einleitet“, sei „nicht zu missbilligen“. Und: Es bedürfte „einer konkreten Auseinandersetzung mit den einzelnen Sachverhalten. Aus diesem Grund kann es keine pauschale Rehabilitierung aller Betroffene geben. Ich bitte um Ihr Verständnis, dass die Landesregierung Ihrer Forderung nicht nachkommen wird, noch in dieser Legislaturperiode einen Beschluss, wie er von Ihnen gefordert wird, in den Landtag einzubringen.“ Die Betroffenen waren sich auf der Kundgebung einig: „Wir geben auf keinen Fall auf!“ Sie wollen auch unter dem neuen Landtag kämpfen, bis zum Erfolg. Auch der IG Metall-Bezirksleiter hat sie in seiner Grußbotschaft bestärkt: „Der Radikalenerlass hat Bürger und Arbeitnehmerrechte mit Füßen getreten. Es ist so, dass man Unrecht auch zweimal begehen kann. Inden man es zunächst einmal zulässt. Und es dann nicht aus der Welt schafft, obwohl es ein Leichtes wäre genau dies zu tun. Die IG Metall steht – wie die anderen DGB-Gewerkschaften auch – hinter Euch. Solange, bis wir gemeinsam Vollzug melden können. Euer Roman Zitzelsberger.“ (Martin Hornung, Eppelheim/Heidelberg, Berufsverbot 1975)
Die Teilnehmerzahl der Protestkundgebung am 17. Februar 2016 vor dem Stuttgarter Landtag gegen die Berufsverbote lag höher als 2014. Annähernd die Hälfte der rund 80 Anwesenden waren Betroffene, zumeist mit Namensplakaten und der Aufschrift „als Verfassungsfeind abgestempelt“. Außer VVN- waren viele DGB-, GEW-, ver.di- und IG Metall- Fahnen zu sehen. Für die Initiativgruppe bzw. Betroffenen sprachen Christina und Klaus Lipps (beide Baden-Baden), Lothar Letsche (Tübingen), Werner Siebler (Freiburg), Martin Hornung (Eppelheim), Michael Dandl für den erkrankten Michael Csaszkóczy (Heidelberg) sowie Reinhard Gebhardt (Mannheim). Bernd Riexinger, Parteivorsitzender und Spitzenkandidat der Linken, hielt eine Solidaritätsansprache. Darüber hinaus gab es Grußbotschaften von GEW, ver.di und IG Metall. Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Conradi konnte aufgrund eines Krankenhausaufenthalts nicht kommen. Helmut Ciesla (Hirschberg, Bergstraße) umrahmte die Kundgebung mit Beiträgen auf der Trompete („Die Gedanken sind frei“). Presse und Fernsehen waren im Gegensatz zu 2014 nicht erschienen. Die beiden Grünen-Abgeordneten im „Runden Tisch“, der von Juni bis Dezember 2014 drei Mal getagt hatte, kamen zwar mehrmals aus dem Landtag heraus, ohne jedoch zur Kundgebung zu sprechen.