Was die Aufarbeitung der Shoah für einen deutschen Juden aus Israel bedeutet

10. Juni 2025

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Wie in jedem Jahr, führte der Landtag von Baden-Württemberg auch am 27. Januar 2025 eine „Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus“ durch. Die eindrucksvolle Veranstaltung kann in der Mediathek des Landtags angesehen und abgerufen werden.

In die konzeptionelle Vorbereitung dieser Gedenkfeiern sind die „Opferverbände“ einbezogen – darunter auch die VVN-BdA für die aus politischer Gegnerschaft zum Naziregime Verfolgten und Ermordeten. Bei der Gedenkfeier am 27. Januar 2025 wurde im Namen aller Opfergruppen von Michael Kashi, Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs, ein sehr persönlich gehaltenes Grußwort vorgetragen. Wir dokumentieren es im Folgenden.

Über dem Tor zum Lager in Buchenwald, da prangte zynisch der Schriftzug: „Jedem das Seine“

Sehr geehrte Landtagspräsidentin Aras, sehr geehrte Abgeordnete,
Vertreterinnen und Vertreter der Opfergruppen, Gäste dieses Hohen Hauses,
sehr geehrter Herr Prof. Sabrow, meine sehr geehrten Damen und Herren!

im Vorfeld des heutigen 80. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz, wurde darum gebeten, dass doch ein Vertreter der jüdischen Gemeinde im Namen aller Opfergruppen einleitende Worte spricht.

Anerkennung dessen, was den jüdischen Menschen Europas angetan wurde. Und zugleich eine kaum zu bewältigender Bürde, das Leid auch all der anderen in Worte fassen zu müssen.

Tatsächlich unterschied sich die Welt auch für die Überlebenden dramatisch: Den einen blieb der Versuch, ihr Leben irgendwie wieder „in Ordnung“ zu bringen; andere – Sinti, Roma oder Jenische – wurden weiter diskriminiert und ausgegrenzt. Homosexuelle blieben noch in der jungen Bundesrepublik weiter mit Strafe, Verfolgung und Haft bedroht.

All dies abzudecken vermag ich nicht. Doch will ich Sie mitnehmen in die Welt eines Jungen, dem einst sein Nachbar lehrte, was für ihn die Schoa
bedeutet hatte.
Ich will Ihnen ein intuitives Gefühl vermitteln, wie bedeutsam die Erinnerungsarbeit ist, der Sie sich hier in diesem Hohen Haus stellen. Der wir uns gemeinsam stellen.

Ich wurde 1948 in Tel Aviv, in Israel geboren. Zu dieser Zeit versuchte die Welt zu begreifen was in den letzten Jahren geschehen war. 60 Millionen Tote. Die Zerstörung Europas. Zerstörung weltweit. Doch fing man an, wieder nach vorne zu blicken!

Nicht so die Überlebenden. Wir Juden. Sinti. Roma. Jenische …

Die Welt begann nach vorne zu blicken – doch für viel zu viele der Überlebenden wurde mehr und mehr Gewissheit: Sie waren fortan allein.

Eltern. Großeltern. Ehefrau oder Mann. Kinder. Verwandte. Freunde.

Jeden Tag auf eine Nachricht gefasst, wo dieser Angehörige oder jener Freund sein Leben verloren hatte. Glückliche Momente des Wiedersehens – sie waren rar gesät.

Warum hatten ausgerechnet sie überlebt?! – Darüber zu sinnieren, hatten sie sehr viel Zeit. Zuviel Zeit, mussten sie mitunter noch über Wochen und Monate in den Lagern leben. Die Tore von Auschwitz waren offen. Doch die Pforten in ihrer Heimat und die Pforten zurück in unsere Gesellschaft: Für sie     blieben sie verschlossen.

Für die überlebenden Jüdinnen und Juden änderte sich dies erst mit der Unabhängigkeit Israels am 14. Mai 1948. Dort hatte man inzwischen ebenfalls zu begreifen begonnen, was geschehen war.

Dieses neue Land öffnete ihnen die Pforten. War selbst zutiefst traumatisiert. Kaum ein Gespräch, das nicht mit der Schoah endete. Ein Drang, zu erzählen – dann wieder Schweigen. Wutausbrüche, begleitet von Verzweiflung und Depression.

Als ich, als kleiner Junge in die Schule kam, da wusste ich kaum, wer David Ben Gurion war. Doch ich kannte Hitler und wusste über die Schoah Bescheid. Wusste viel zu viel für einen kleinen Jungen.

Wir hatten damals einen Nachbarn. Er war in Krakau geboren. Ein kleiner, dürrer Mann mit traurigen Augen. Augen, die längst ausgeweint hatten. Er hat in der Schoa alles verloren. Frau, Sohn, Eltern, Großeltern, alles.

Vielleicht erinnerte ich ihn an seinen Sohn: Wann immer er mich auf der Straße traf, erzählte er mir von ihm. Und auch davon, was er erlebt und überlebt hatte. Schlimmes, Verstörendes, was er mir erzählte.

Mit 12 fuhren wir als Schulklasse nach Jerusalem und besuchten dort auch das Holocaustmuseum Yad VaSchem. Sahen dort die Bilder von den Vernichtungslagern. Sahen Bilder der Räume, wo Juden mit Gas ermordet wurden. Bilder der Öfen, wo man die Leichen beseitigte.

Ich war so entsetzt, dass ich damals beschloss, nie wieder etwas davon hören zu wollen. Wollte nur noch nach vorne blicken. Wollte spielen. Wolle Jugendlicher sein!

Und das sagte ich auch zu meinem Nachbarn, als er wieder ins Erzählen kam.

Er schaute mich daraufhin traurig an. Und sagte dann zu mir:
„Hör mal Michael, heute bin ich da und kann Dir das alles erzählen. Eines Tages bin ich nicht mehr da. Und Du wirst erleben, dass Menschen zu Dir sagen, dies alles sei nur erfunden. Lügen, die Juden erfunden haben, um die Deutschen zu diffamieren. Und daraus Profit zu schlagen…“

Ich war verwirrt. Wie kann man sowas leugnen?! – Es steht in den Zeitungen. Es gibt Bilder!

Ich glaubte ihm nicht. Und mied ihn fortan.

Jahre später, als junger Mann lebte ich schon in Deutschland, war verheiratet und hatte ein Kind. Da kam ich ins Gespräch mit einem älteren, sympathischen Herrn. Irgendwann fragte er, woher ich eigentlich stamme.

Ich antwortete: „Aus Israel.“
Da fragte er entsetzt, ob ich Jude sei. „Ja“ antwortete ich.

Unmittelbar darauf begann er mich anzuschreien: Was man den Juden angetan hätte, das seien alles nur Lügen. Wir Juden seien zutiefst böse Menschen…Ich erinnerte mich an dem was mein Nachbar sagte.

Ich war entsetzt. Ich fuhr nach Hause und erzählte es meiner Frau.

Für mich gab es in dem Moment zwei Alternativen: Wir packen unsere Sachen und gehen nach Israel. Oder ich bleibe hier und stelle mich dem, was einst der Nachbar mir vorhergesagt hat.

Mit Unterstützung meiner Frau entschied ich mich, den Kampf aufzunehmen.

Den Kampf gegen die Leugnung der Shoah.
Und immer stärker und stärker auch den Kampf für die einst kleine, jüdische Gemeinde, die mit der Zeit wieder wuchs und wuchs.

Wir dürfen niemals all jene vergessen, die damals so brutal und so vollkommen sinnlos ermordet wurden. Sie niemals vergessen, auch wenn wir ihre Namen nicht kennen. Denn niemand geblieben war, der sie später noch hätte beim Namen nennen können.

Das, meine Damen und Herren,
ist das, was das deutsche Wort der „End-Lösung“ meint.

Wir dürfen nicht vergessen. – Und dieses Verbrechen darf sich niemals wiederholen.

Später begann ich zu erzählen. Erzählte, wie mich die Schoah – der Holocaust einst eingeholt hatte. Als Kind in Israel. Und später in Deutschland.

Besonderes auch in Schulen. Denn zu leicht ist es, Augen und Ohren vor dem Vergangenen zu verschließen, wenn man jung ist und der Blick nach vorne gerichtet.

Ich erzähle meine Geschichte, die so vollkommen anders ist, als die der anderen. Und doch so gleich.

So möchte ich Ihnen, sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin und den Abgeordneten in diesem Hohen Haus, von Herzen danken. Danken im Namen aller Opfergruppen, dass wir uns hier gemeinsam versammeln. Gemeinsam versammeln, damit niemals mehr Menschen sich zu „Herren“ über andere erheben und mit Blut und Tinte zynisch schreiben: Jedem das Seine!