»AfD, Pegida & Co – Mobilisierung am rechten Rand«

28. November 2016

Gastreferat von Richard Detje

auf der Landesdelegiertenkonferenz der VVN-BdA BW
am 5. November 2o16

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Einladung. Gleichermaßen dafür, an der beeindruckenden Verleihung des Alfred-Hausser-Preises teilnehmen zu dürfen sowie die Gelegenheit zu haben, ein paar Gedanken zur Zeitdiagnose zu vertiefen.

Am Dienstag wird in den USA ein neuer Präsident gewählt. Bereits von gut zehn Jahren sprach der amerikanische Soziologe Richard Sennett über die Gefahr einer »weichen Spielart des Faschismus«. Damit meinte er ein autoritäres Politikmodell, an dem jede Forderung nach gelebter Demokratie und Partizipation gleichsam systemisch abprallt: an Unternehmen ebenso wie an einem sich mit TINA-Parolen (»there is no alternative«) abschottendem politischen System. Die Warnung wurde nicht ernst genommen. Die Zersetzung der Republikanischen Partei zuerst durch die Tea Party und schließlich durch Donald Trump ist die Quittung – aber auch der Verkauf der Demokratischen Partei an das politische und ökonomische Establishment. In der Nacht des 8. November werden wir nicht ohne Schrecken verfolgen, welcher Krug da noch einmal – möglicherweise – an uns vorbei gegangen ist.

Die Entscheidung in den USA wird die globale politische Tagesordnung prägen. Zugleich ist sie Teil eines globalen Umbruchprozesses. Meine Ausgangsthese lautet, dass die Gegenwart einen Knotenpunkt bildet, in dem unterschiedliche Entwicklungen zusammenkommen, sich verknüpfen, wechselseitig durchdringen und neue Entwicklungsprozesse einleiten. Anders formuliert: Wir befinden uns in einer tiefgreifenden Umbruchsituation – einige sprechen von einem Epochenwechsel.

Ich werde für das mir gestellte Thema auf vier Punkte näher eingehen:

1. aktuelle politische Wendepunkte

2. die ökonomische und soziale Krisensituation,

3. die Quellen des Rechtspopulismus, die Gründe für seinen Aufschwung,

4. Scheinlösungen und Alternativen im Umgang mit AfD, Pegida & Co.

 

  1. Aktuelle politische Wendepunkte

Über einen Zeitraum von zehn Jahren – von 2001 bis 2011 – haben Forscher_innen des Bielefelder Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung in jährlichen repräsentativen Umfragen Elemente »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Abwertung von homosexuellen, behinderten, obdachlosen, langzeitarbeitslosen Menschen untersucht. Im Abschlussband der »Deutschen Zustände« – wie sie ihre Langzeitanalyse genannten haben – charakterisieren sie den Beginn des 21. Jahrhunderts als »Jahrzehnt der Entsicherung«. Darunter verstehen sie »Kontrollverluste der Politik« ebenso wie ökonomische Krisen. »Entsicherung« – so der Fortgang ihrer Analyse – verbindet sich mit »Richtungslosigkeit«, wozu der »Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts« ebenso gehört wie der Ersatz aufklärerischer Debatten durch einen politischen Diskurs, der sich vornehmlich der Floskel, es gäbe keine Alternativen, bedient.

Was die Bielefelder vor fünf Jahren für nicht wahrscheinlich gehalten haben – »Unseren Daten zufolge ist eine parteipolitische Integration des rechtspopulistischen Potentials unwahrscheinlich« – ist eingetreten. Das Syndrom »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«, das in der Bundesrepublik seit Längerem von gut 10-20% der Bevölkerung geteilt wird, hat im vergangenen Jahr mit der Alternative für Deutschland (AfD) einen eigenständigen politischen Ausdruck erhalten.

Die AfD verändert das Parteiensystem – und das markiert einen ersten Teil des Knotenpunktes. Mit dem Aufstieg der AfD verlieren die Christdemokraten ihren Alleinvertretungsanspruch für das gesamte rechte politische Spektrum – etwas, was dem ehemaligen CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Frank-Josef Strauss zufolge nie hätte passieren dürfen. CDU/CSU sind mit einer politischen Konkurrenz konfrontiert, die ihren Status als rechtsbürgerliche Catch-All-Partei attackiert.

Derzeit noch als Unterströmung zur offiziellen christdemokratischen Front gegen die AfD zeichnet sich ein Umgruppierungsprozess ab: In einer Nach-Merkel CDU wird ein erstarkter nationalkonservativer, autoritärer Flügel im Schulterschluss mit der Mehrheit in der CSU darauf drängen, die an die AfD verlorenen Wähler durch Einbindung und »Entzauberung« des organisierten Rechtspopulismus in eine Regierungskoalition zurückzugewinnen. Für die extreme Rechte ist das gleichermaßen mit Verheißungen wie Gefahren verbunden. Sie gewönne durch ihre »Entdiabolisierung«, verlöre jedoch möglicherweise ihren Status als »Bewegung«- und Anti(System)-Partei. In beiden Fällen kommt es zu einer fortschreitenden Verschiebung des politischen Koordinatensystems in eine post- oder antidemokratische Richtung.

Diese Veränderungen des bundesdeutschen Parteiensystems werden verstärkt durch die politische Entwicklung in Europa. UKIP in Großbritannien war ein Beleg für die Mobilisierungsfähigkeit rechtspopulistischer Bewegungen in Kernfragen der nationalen und europäischen Politik – ein Hinweis darauf, welche Kraft der Begriff der Nation im politischen Diskurs wieder bekommen hat. In Österreich ist die Gefahr weiter gewachsen, dass ein FPÖ-Funktionär Repräsentant der Republik wird. Mitte März kommenden Jahres könnte Geert Wilders Partij voor de Vrijheit bei den Wahlen zu nationalen Parlament der Niederlande zur stärksten politischen Kraft anwachsen – aktuelle Meinungsumfragen sagen der gegenwärtigen Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten eine herbe Niederlage voraus (VVD von 41 auf 24 Sitze, PvdA von 38 auf 11). Die entscheidenden Wahlgänge finden dann wenig später am 23. April und 7. Mai in Frankreich statt – niemand kann heute ausschließen, dass die Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen, das Erbe der Republik antreten wird. Wäre dies der Fall, wäre auch das Ende des europäischen Integrationsprojekts durch Rückabwicklung in Nationalstaaten eingeleitet. Ich will die Staaten Europas mit starken rechtsextremen Parteien an dieser Stelle nicht durchbuchstabieren, sondern –  auch mit Verweis auf die größten osteuropäischen Staaten Polen und Ungarn – deutlich machen, in welchen politischen Umfeld die Wahlen zum Deutschen Bundestag im Oktober 2017 stattfinden.

Es war einst die Linke, die sich als eine internationale und internationalistische Kraft verstand und sich als solche organisierte. Heutzutage sind es die rechtsnationalistischen und antieuropäischen Parteien, die sich anschicken, Europa in reaktionäre Nationalismen zurückzuführen.

 

  1. Ökonomische und soziale Krise

Ich habe – und damit leite ich über zu meinem zweiten Punkt – bei der Skizzierung des politischen Knotenpunkts eine These unterlegt, die explizit zu machen ist. Sie lautet: Die neoliberale Epoche ist an ihr Ende gekommen. Auch wenn die Slogans der Austeritätspolitik weiter posaunt werden – diese Politik ist keine mehr, die Hegemonie stiftet, also nicht nur per Macht durchgesetzt wird, sondern im Alltagsverständnis überzeugt. Man vergleiche – in der Geburtsstätte des Neoliberalismus – das Programm von Margret Thatcher mit dem der heutigen Premierministerin Theresa May. Zwischen Thatcher und May liegt das uneingelöste Versprechen, durch rabiate Entstaatlichung, Privatisierung und Deregulierung zu einer Revitalisierung des akkumulationshungrigen Kapitalismus zu gelangen und – durch die Leistung des Individuums – zu »Wohlstand für Alle«.

Es wäre m.E. fahrlässig, sich nicht auf strategische Flexibilität der politischen Rechten einzustellen. In der Großen Krise 2008ff. hat sie gezeigt, dass sie in der Lage ist, schnell und ohne Skrupel auf eine vermeintlich bastard-keynesianische Politik der Nachfragestimulation, Beschäftigungssicherung und Einbindung der Gewerkschaften einzuschwenken. Diese strategische Flexibilität könnte in einer verschärften Krisensituation erneut mobilisiert werden – allerdings unter dramatisch erschwerten Bedingungen: Es ist die Rettung der Vermögenspositionen der Besitzenden und Vermögenden, die zur neueren Explosion der Staatsverschuldung geführt hat.

Was in Europa seit 2009 auf extrem kostspielige Weise geschehen ist, hat der Kölner Soziologe und ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, als »Kaufen von Zeit« bezeichnet. Risikopositionen der Banken wurden gleichsam vergesellschaftet in der Erwartung, damit die Geldinstitute wieder ertragreich zu machen. Die Finanzmärkte wurden mit den Geldern der Europäischen Zentralbank »geflutet« und damit Anlagevermögen gesichert. Doch mit »billigem« Geld werden keine Realinvestitionen getätigt, sondern Aktienmärkte stabilisiert – und damit jene Situation reproduziert, wie sie vor der Krise bereits einmal bestand: Finanzmärkte ohne entsprechend realwirtschaftlichem Unterbau. Streeck spricht mittlerweile nicht mehr von der Zukunft des Kapitalismus, sondern von dessen Ende. Durchaus – wenn auch weniger radikal – im Einklang mit den beiden US-Wirtschafts-Nobelpreisträgern Stiglitz und Krugman, die die Zukunft des Kapitalismus in einer säkularen – d.h. langanhaltenden – Stagnation sehen, wohlweislich, dass der Kapitalismus nur als Akkumulations- und Wachstumsregime existieren kann.

Knotenpunkt meint also auch dies: Die Krise eines Kapitalismus, der nicht mehr in der Lage ist, Wohlfahrtsversprechen einzulösen und damit auf Legitimationsressourcen zurückzugreifen. Der moderne Rechtspopulismus baut auf diesem Krisenkapitalismus auf.

Wie das erfolgt, haben wir in zwei Befragungsstudien zum Krisenbewusstsein nachverfolgt (Detje u.a.: Krise ohne Konflikt, 2001; Krisenerfahrungen und Politik, 2013). Danach ist Krise im Alltagsverständnis zu einem Dauerzustand geworden: Niemand weiß, wie der Arbeitsplatz in 5 Jahren aussehen wird, ob es ihn noch gibt, welche Anforderungen er stellt, wie man sich darauf vorbereiten kann; man weiß aber so viel: die Leistungsschraube wird weiter angezogen, obwohl man bereits im Überlastbereich arbeitet; permanente Restrukturierungsprozesse prägen das betriebliche Management, wobei die Zonen der Prekarität größer werden; Beruf und Familie sind zunehmend schwerer zu vereinbaren und die Ansprüche, die man selbst an Gute Arbeit hat, bleiben auf der Strecke.

Daraus entsteht Ohnmacht, aber – so unsere Interviews – auch jede Menge Wut, bei der unklar war, an wen sie zu adressieren ist: im Zweifelsfall nicht an den Sparkassendirektor vor Ort, auch nicht an das eigene Management, das unfähig sein mag, aber für die Krise 2009 schwerlich verantwortlich gemacht werden kann. Was wir »adressatenlose Wut« genannt haben, war der Vorläufer oder besser: der Resonanzboden der »Wutbürger« von Pegida. Die Wut wurde adressiert: an Ausländer und Flüchtlinge, an die »Lügenpresse«.

Zum Adressaten wurde auch die politische »Elite«. Sie ist nicht nur unfähig zur Problemlösung, sie hat sich im Laufe der Zeit zu einer aparten Schicht entwickelt, die mit dem Alltag der Arbeitsgesellschaft wenig vermittelt ist – so die Wahrnehmung, denn das politische Feld funktioniert nach eigenen Regeln, die den »Professionellen« vorbehalten sind. Aus der Entfremdung zwischen den Alltagsnöten der Arbeitsgesellschaft und den Akteuren des politischen Feldes ist im politischen Diskurs des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus jenes Ferment geworden, das zur eigenständigen, aparten Organisierung entscheidend ist: Man wird nicht mehr vertreten, darf nicht mehr sagen, »was mal gesagt werden sollte«, wird nicht mehr ernst genommen – muss sich also selbst helfen: angefangen mit Demonstrationen vor Asylbewerberheimen, dann auf Montagsmärschen und schließlich anonym in der Wahlkabine mit einem Kreuz bei der AfD.

Als Knotenpunkt bezeichne ich also eine Verknüpfung von wirtschaftlichen Krisenentwicklungen, sozialen Perspektivverlusten und politischen Repräsentationskrisen, die massive Erschütterungen im Alltagsleben hervorrufen. Damit haben wir es gegenwärtig zu tun.

 

  1. Quellen des Rechtspopulismus

Damit sind bereits einige Quellen des heutigen Rechtspopulismus – mein dritter Punkt – angesprochen. Ich fasse sie nur stichwortartig zusammen:

  1. massive Abstiegsängste, die in den unteren Mittelschichten noch stärker ausgeprägt sind als in den stärker prekarisierten Bereichen der Arbeitsgesellschaft. Das macht die Gefahren noch größer: Die neue Rechte ist bis weit in die Mitte der Gesellschaft verankert – nicht nur am »rechten Rand«. Wir haben das Phänomen, dass Teilnehmer an PEGIDA-Demonstrationen oder Wähler_innen der AfD ihre eigene wirtschaftliche und soziale Lage als durchaus zufriedenstellend bezeichnen. Es ist nicht in erster Linie Prekarität, die zur extremen Rechten tendiert. Viel wichtiger sind Zukunftsängste, also die Erwartung, dass es künftig immer weiter bergab geht. Vielleicht das Wichtigste: Die Sorge, dass es den eigenen Kindern schlechter gehen wird, dass ihre Zukunftsaussichten sich zunehmend verdüstern. Damit schwindet eine entscheidende Legitimationsressource jenes Kapitalismus, der einmal als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet wurde.
  2. die Transformation dieser Abstiegsängste von einer vertikalen in eine horizontale Perspektive. D.h.: Klassenkonflikte zwischen dem gesellschaftlichen Oben und Unten, die in der neoliberalen Epoche – wie die Untersuchungen von Piketty, Anderson u.a. gezeigt haben – massiv zugenommen haben, werden in Konflikte zwischen „wir und die anderen“ umgedeutet. Dabei wird auf einen Vergesellschaftungszusammenhang rekurriert, der ebenso wie die »Klasse« auf der Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft entstanden ist: die »Nation« – einst ein Fortschrittskonzept der Bourgeoisie gegen den feudalen Adel – die nun als ethnische, identitäre Gemeinschaft gegen alle in Stellung gebracht wird, die als »die anderen« erfahren werden.

Beides wird verknüpft in dem, was Klaus Dörre als die neue »national-soziale« Frage bezeichnet. Ich habe das sehr eindringlich in Dänemark erfahren, einem jener skandinavischen Wohlfahrtsstaaten, die sich einst durch sozialen und kulturellen Progress auszeichneten. Die Dänische Volkspartei avancierte zur entschiedenen Fürsprecherin des Sozialstaats insbesondere mit ihrer Verteidigung des Rentensystems gegen Niveauabsenkung und Verlängerung der Lebensarbeitszeit – aber als ein System für Dänen, dem der Zugang durch Ausländer, Asylbewerber, Flüchtlinge strikt verwehrt werden muss. Der Wohlfahrtsstaat wird verteidigt, aber nur für die Angehörigen der eigenen Nation. Es gibt also so etwas wie wohlfahrtsstaatliche Solidarität, aber diese Solidarität grenzt aus, exkludiert. Wir finden Vergleichbares bei den Schwedendemokraten und beim Front National – der nationale Diskurs ist mit dem sozialen verwoben. Deshalb auch die Spaltung der AfD: Mit dem neoliberalen Anti-EU-Flügel wäre die national-soziale Formierung der Rechten nicht gelungen.

  1. Die Ressource des Rechtspopulismus ist das Ressentiment (wörtlich übersetzt soviel wie »heimlicher Groll«). Es gründet auf Ungerechtigkeitswahrnehmung, präziser – so der französische Soziologe Pierre Bourdieu – auf verweigerter Anerkennung dessen, was man geleistet hat und auf der Abwertung der sozialen Position, die man innehat. Die sozialen Verwerfungen in Wirtschaft und Gesellschaft und damit das eigene soziale Leid werden projiziert auf andere soziale Gruppen – heutzutage i.W. Flüchtlinge, Asylbewerber usw. – , die verantwortlich gemacht werden. »Besessen vom Gedanken der allseitigen Wahrung der bestehenden Ordnung, verlegen sie ihre ganze Empörung gegen die Verschlechterung ihrer sozialen Lage in moralischer Entrüstung über den Verfall der Sitten«, schreibt Bourdieu. Die »Wutbürger« sehen ihren Protest als »Aufstand der Anständigen« gegen die Untergrabung dessen, was sie unter Ordnung verstehen – sei es durch den Islam oder andere Lebensformen. Es ist das Ressentiment, das eine rationale Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten schwierig macht.
  2. Der Thematisierung der sozialen Frage durch die radikale Rechte ist vorausgegangen die De-Thematisierung der sozialen Fragen durch die Linke. Für Frankreich hat Didier Eribon (Rückkehr nach Reims, 2016) beschrieben, wie die Sozialistische Partei mit Funktionären, die die klassische Elitenrekrutierung der Ecoles und der Universitäten durchlaufen haben, zum Protagonisten des Neoliberalismus geworden ist, der für die Nöte der »Arbeiter« nur noch Verachtung oder Ignoranz aufgebracht hat. Eribon beschreibt dies als einen Prozess der Entfremdung und vor allem der Entmachtung und Transformation:  Die Sozialdemokratie – und die im Niedergang befindliche KP – stellte im Namen eines Neuen Individualismus – einer Neuauflage des »jeder ist seines Glückes Schmied« – alte kollektive Identitäten infrage, damit die Berechtigung kollektiver Handlungs- und Lernprozesse, und ließ die »Klasse« ohne Handlungs- und Widerstandsperspektive. In dieses Vakuum konnte der Rechtspopulismus eindringen: mit dem Vergesellschaftungsangebot »Nation«.
  3. Die europäische Entwicklung wurde gleichsam zu einem Verstärkungsmodus: scheiternde, sich als Krisen- statt als Problemlösungsprozess erweisende Politik, ein transnationales Feld entfremdeter, diskreditierter politischer Repräsentation, mündet in der Aufwertung nationalistischer Diskurse, damit der Trennung zwischen dem »wir« und »den anderen«, der vertikalen Spaltung der Gesellschaften.

 

  1.  Scheinlösungen und Alternativen im Umgang mit AfD, Pegida & Co.

Ich komme zu meinem letzten Punkt: den Scheinlösungen und Alternativen zum Rechtspopulismus und Rechtsextremismus.

»Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache« (2016) lautet das jüngste Buch des polnischen, in Britannien lehrenden Soziologen Zygmunt Baumann. Er hat sehr eindringlich die Politik der Scheinlösungen beschrieben mit dem englischen Begriff der »securitization« – wir würden sagen: Sicherheitspolitik im innenpolitischen Sinn. Diese Politik – so Baumann – »verschiebt die Angst vor Problemen, die der Staat nicht zu lösen vermag (oder garnicht erst angehen möchte), auf Probleme, mit denen die Regierung sich – wie täglich auf unzähligen Bildschirmen zu sehen – eifrig und (gelegentlich) erfolgreich auseinandersetzt.« Das Beispiel ist Victor Orbans Grenzzaun (oder das Dringen der CDU auf eine »Obergrenze« in der Flüchtlingsfrage). 87% der Ungarn haben diese Politik Anfang des Jahres für unterstützenswert gehalten – darunter auch der Schriftsteller György Konrad, der Orban aufgrund seines ungezügelten Illiberalismus verabscheut, seine Grenzpolitik aber für richtig hält. »Mit anderen Worten: Falsch an Orban ist seine illiberale Haltung gegenüber den Bürgern des von ihm regierten Landes; richtig ist jedoch die illiberale Haltung gegenüber Menschen, die in diesem Land die Rettung vor Tyrannei, mörderischer Verfolgung und/oder unmenschlicher Armut suchen.«

Die Logik der »Sicherheitspolitik«, wie sie Baumann beschreibt, ist fatal: Zum einen führt sie dazu, dass Empathie gegenüber den Opfern und Notleidenden einer aus den Fugen geratenen Welt zersetzt wird – die Flüchtlinge müssen fern gehalten werden, damit die sozialen Probleme hier nicht ins Unermessliche wachsen. Zum anderen verschärft sie die tatsächlichen Sicherheitsprobleme, indem die soziale Frage ungelöst bleibt: Man weiß, dass die Mehrzahl der westlichen IS-Konvertiten aus sozial benachteiligten Verhältnissen stammen – auch die Attentäter in Frankreich. Doch darauf wird nicht mit Sozialpolitik, sondern mit der Verschärfung des Asylrechts, mit immer neuen Sicherheitsgesetzen, mit sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung geantwortet – so »fördert man in Wirklichkeit … (die) Ziele der al-Qaida, des IS und ihrer zukünftigen Ableger und Anhänger.«

Was wäre ein richtiger Ansatz? Ich denke, wir könnten Jürgen Habermas folgen (Blätter für deutschen und Internationale Politik 11-2016). Er sieht es als einen Fehler an, die politische Auseinandersetzung auf den organisierten Rechtsextremismus zu konzentrieren. Damit würde man dessen Frontlinie »Wir gegen das System« nur spiegelbildlich reproduzieren, nach dem Motto: »Das System schlägt zurück«. Notwendig ist zum einen eine Haltung der »klaren Kante«: Wir sollten die Repräsentanten der AfD und die »besorgten Bürger« der PEGIDA – so Habermas – »kurz und trocken als das abtun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus«. Dabei geht es um die Mobilisierung der Zivilgesellschaft überall dort, wo Rechtsextremismus Terrain für sich beansprucht.

Doch der entscheidende Punkt ist ein anderer: Statt der Frontlinie von AfD, PEGIDA usw. zu folgen, sind andere Frontlinien aufzumachen: »Wie erlangen wir gegenüber den zerstörerischen Kräften einer entfesselten kapitalistischen Globalisierung wieder die politische Handlungsmacht zurück?«

Damit ist die Alternative sehr grundsätzlich gestellt.

Michael Schumann, Präsident des SOFI in Göttingen, hat in der jüngsten Ausgabe der WSI-Mitteilungen in einem Rückblick (der zugleich einen Erneuerungsansatz und Ausblick vorschlägt) für die Rückeroberung dieser grundsätzlichen Frontlinie plädiert – gegen eine auch in den Gewerkschaften praktizierte Politik des »realpolitischen Grau in Grau« ohne Systemperspektive. »Die Arbeiterbewegung hat mit dem Prozess der Entkopplung von ihren eigenen Machtressourcen und mit ihrer auf Systemstabilisierung setzenden Reformpolitik Freiräume geschaffen für rechte Politik. Sie zahlt damit für die Aufgabe ihrer großen Erzählung von einer alle Menschen als Gleiche einschließenden Gesellschaft, d.h. mit dem Verzicht ihrer Utopie eines von repressiven Zwängen befreiten humanen Lebens. Als politisch machbares System gilt der Sozialismus als gescheitert. Aber ohne die Idee einer für alle Menschen gestalteten humanen Welt, d.h. ohne Alternativkonzept verliert jede linke Politik ihre Ausstrahlung und wirkt allzu leicht als nur noch kleinmütig. Sie wird Teil jener Entfremdung, die gegenüber dem gesamten politischen System zu erkennen ist. Ähnlich wie der Staat insgesamt erscheinen auch die Institutionen der Arbeiterbewegung vereinnahmt zu sein für den Erhalt von Systeminteressen. Gegenüber dem Kapital wird keine eigenständige, durchsetzungsfähige Politik erwartet.«

In der Tat: Hier ist in aller Offenheit neues Nachdenken über Systemkritik gefordert.

Wir wissen, dass der Kapitalismus strukturell ein auf Ungerechtigkeit angelegtes System ist. Wir wissen, dass die Triebkräfte des Rechtspopulismus extremer werdende soziale Ungleichheit, Abstiegs- und Zukunftsängste sind, gepaart mit sozialen und politischen Ohnmachtserfahrungen. Wir wissen, dass die Demontage des Wohlfahrtsstaates soziales Leid durch Altersarmut ebenso wie Abstiegs- wenn nicht gar Absturzängste in den Betrieben verschärft. Wir wissen, dass Demokratieabbau Ohnmachtserfahrungen ausbeutet. Und wir wissen, dass eine globale Ordnung, in der Staaten zerfallen, mit Freihandelsabkommen, Militäreinsätzen und Rüstungsexporten nur noch weiter aus den Fugen gerät.

Statt der Frontstellung der populistischen und extremen Rechten zu folgen, sollten wir – in diesem Wissen – die realen Frontlinien aufmachen, um der Mobilisierung des Ressentiments das Wasser abzugraben. Für soziale Gerechtigkeit, gegen Herrschaftseliten, die sich das Gros des gesellschaftlichen Reichtums aneignen. Mit einer Politik, die der Aufkündigung des hart erkämpften Zusammenhangs von Kapitalismus und Demokratie offensiv begegnet mit einer über Mitbestimmungsfragen hinaus gehenden Wirtschaftsdemokratie, die den Primat der Politik gegenüber wirtschaftlicher Macht herstellt.

Das Buchenwalder Manifest für Frieden, Freiheit, Sozialismus vom 16. April 1945 forderte im dritten Punkt die Befreiung der Arbeit. Dies ist der am wenigsten realisierte Programmpunkt. Ohne die Befreiung der Arbeit und demokratische Umverteilung anzugehen, kann die soziale Frage den Rechtspopulisten nicht entwunden werden.  Die Idee der Wirtschaftsdemokratie wiederzubeleben ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie nicht anzugehen würde jedoch bedeuten, dem Rechtspopulismus das Feld zu überlassen.

Die Mobilisierungserfolge von Bernie Sanders in den von Trump gebeutelten USA und von Jeremyn Corbyn in dem von UKIP aus der EU herausgekegelten Großbritannien machen Mut, die sozialen Alternativen zum Rechtspopulismus anzugehen.