Ilse Kestin: Rede zu 90 Jahren Mössinger Generalstreik
13. Februar 2023
Siehe auch: 90 Jahre Mössinger Generalstreik
Liebe Kameradinnen und Kameraden,
liebe Freundinnen und Freunde,
do isch neana nons gwäa, als wia do, mit diesen Worten beschrieben Mössinger Bürger die Ereignisse am 31. Januar 1933. Vor 90 Jahren, am 30. Januar 1933 übertrug Reichspräsident Hindenburg Hitler die Macht in Deutschland und damit den Nazis. Damit ermöglichte er die systematische Zerstörung der noch jungen Weimarer Republik, er ermöglichte die Etablierung einer Gewaltherrschaft von bis dahin nicht gekannten Ausmaßes. Damit ebnete er den Weg für die Zerschlagung der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung und führte Deutschland und die Welt letztendlich in einen Krieg mit 60 Millionen Toten.
Freundinnen und Freunde,
hier in Mössingen aber wurde 1933 Geschichte geschrieben. Mössingen war ein Arbeiter- und Bauerndorf. Durch die in Württemberg übliche Erbteilung wurden die bäuerlichen Höfe immer kleiner und die Bauern waren auf das Handwerk und die Fabriken als Erwerb angewiesen. Hauptsächlich Frauen arbeiteten in der Textilindustrie als Näherinnen, die Männer in den Webereien. Es gab drei große Arbeitgeber der Textilindustrie. Die Kolleginnen und Kollegen waren gewerkschaftlich unterschiedlich stark in den Betrieben organisiert, – übrigens wäre das heute der Betreuungsbereich der IG Metall, das nur so nebenbei. Die Menschen im pietistischen Württemberg hatten eine ausgeprägte Vorstellung, was rechtens und gerecht ist. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich die Mössinger Arbeiter und Handwerker zunächst in der Sozialdemokratie und später in der KPD organisierten. Aber ihr Marxismus war ein Mössinger Marxismus, geprägt durch die Werte, die in Württemberg galten und einen ebenso – vielleicht nicht immer- angebrachten – Pragmatismus. Daneben gab es hier aber auch eine breite bürgerliche Mittelschicht, die z. Bsp. im Gemeinderat, durchaus mit den Linken konstruktiv zusammenarbeitete.
Freundinnen und Freunde,
mit den immer stärker werdenden Nazis verhärteten sich die Fronten. Die bürgerlichen Parteien und die SPD verlieren ihre Wähler an die NSDAP. Und nur der KPD gelingt 1932 mit 32% ein akzeptables Ergebnis in Mössingen. Das sah 1933 schon anders aus, da erreichte die NSDAP bereits 55%. Nach den Erfahrungen des 1. Weltkrieges war besonders für die Linken klar: Es darf keinen neuen Krieg geben!
Während die bürgerlichen Parteien ihr Heil im Revanchismus sahen, war für die Kommunisten klar, dass dies der Weg in die Katastrophe sein würde. Im Vorfeld der erwarteten Machtübertragung auf die Faschisten rief die KPD zum Generealstreik in ganz Deutschland auf. Diesem Aufruf wurde in Mössingen Folge geleistet, nicht nur Kommunisten auch Sozialdemokraten und Parteilose unterstützen die antifaschistische Aktion. Besonders in den drei Großbetrieben sollte der Generalstreik etabliert werden. Von den Eigentümern gab es unterschiedliche Reaktionen: Pausa, ein Betrieb in jüdischem Besitz, gab seinen Mitarbeitern frei. Die Trikot Fabrik Merz wurde von den Streikenden besetzt. Der Besitzer versuchte die Demonstranten aus seinem Betrieb raus zu halten, was nicht gelang, da die örtliche Polizei nicht einschritt – es waren allerdings auch nur ein Landjäger und zwei Schutzleute. Eine Vielzahl der Beschäftigten schlossen sich nach längeren Diskussionen den Streikenden an. Der dritte Textilbetrieb – Burckhardt – wurde vom Eigentümer verrammelt mit allen Mitarbeitern darin. Es wurde weitergearbeitet. Als dann auf Betreiben des Fabrikanten Merz die sogenannte grüne Polizei aus Reutlingen eintraf war der Generalstreik beendet. Für die Organisatoren war klar: Auflösung! Und: wir sind allein, sonst hätte die Polizei aus Reutlingen nicht kommen können.
Freundinnen und Freunde,
die politische Linke war in ganz Deutschland zerstritten. Die politischen Einschätzungen zu den Nazis und Hitler waren unterschiedlich. Für die Kommunisten aber war klar: Hitler bedeutet Krieg!
Dass es nicht flächendeckend zu ähnlichen Aktionen wie in Mössingen gekommen ist, lag an dieser Zerstrittenheit. Damit war aber auch die letzte Gelegenheit verspielt, den Faschisten Einhalt zu gebieten. Mit unglaublicher Geschwindigkeit bereinigten die Nazis alle demokratischen Strukturen und anderes was ihnen im Wege stand. Bereits im Mai 1933 waren die Parteien verboten, die Gewerkschaftshäuser besetzt und möglichst viele Gegner inhaftiert. Für viele Mössinger Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dem Generalstreik hieß dies: Verhaftung, Anklage wegen Landfriedensbruch und Aufruf und Vorbereitung zum Hochverrat. Insgesamt wurden 98 Streikende angeklagt.
Freundinnen und Freunde,
zur Geschichte des Generalstreiks und seiner Aufarbeitung gäbe es sicher noch viel zu sagen, aber hier dazu nur so viel: Nach 1945 haben sich besonders die DKP und die Vereinigung der Verfolgten des Nazi Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten wider das Vergessen und für die Aufarbeitung der Geschehnisse eingesetzt. Das war nicht immer ganz einfach. Es gab Widerstände von Bürgern und von offizieller Seite. Mittlerweile hat aber auch die Gemeinde Mössingen erkannt, was für eine historische Botschaft im Mössinger Generalstreik steckt. Widerstand ist notwendig. Widerstand rettet Leben und Selbstachtung. Widerstand ist Solidarität und Respekt!
In der Feierstunde zum Gedenken an den Holocaust im Landtag wurde gestern der Mössinger Generalstreik mehrfach von verschiedenen Rednern als Beispiel für zivilen Widerstand genannt, dem das Gedenken gelten muss. Unsere Aufgabe als VVN ist die Erinnerung wach zu halten und zu mahnen. Rechtextremen Umtrieben entgegen zu treten und keine Verharmlosung zuzulassen.
Die Verbrechen der Nazis sind singulär!
Treten wir dem Geschichtsrevisionismus entgegen!
Es gilt immer noch: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!
Für Demokratiefeinde wie Reichsbürger, Nazigruppierungen, Pegida, Antisemiten und nicht zuletzt für die AfD ist das sogenannte 3. Reich nicht untergegangen in ihnen ist Faschismus nach wie vor lebendig. Deshalb gilt es für uns als Opferorganisationen gegen jede Form von Rechtextremismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit anzukämpfen. Gleichzeitig gilt es aber auch die demokratische Freiheit im Blick zu behalten. Es ist genau so wichtig nicht zuzulassen, dass der demokratische Staat aufgrund dieser Faschismus Gefahr mit übersteigerter Härte reagiert. Eine wehrhafte Demokratie lebt vom Streitgespräch, von Information und nicht zuletzt von Bildung und Geschichtsarbeit und nicht von Verboten!
Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!
Und dies darf nie nur eine Phrase sein!
28. Januar 2023, Mössingen