Jens Rüggeberg: Wider den aktuellen Geschichtsrevisionismus!
11. Mai 2023
Redebetrag der VVN-BdA auf der 8. Mai Kundgebung in Tübingen
30. November 2022 – den Tag hat niemand auf dem Schirm. Aber er ist als denkwürdig in die Geschichte des deutschen Parlamentarismus eingegangen. Zum ersten Mal hat der Bundestag eine Frage durch einen Beschluss zu entscheiden versucht, die in der Geschichtswissenschaft nach wie kontrovers diskutiert wird. In einer Resolution erklärte er den so genannten „Holodomor“ zu einem Akt des Völkermords. Mehrmals waren zuvor Anträge mit eben diesem Ziel im Petitionsausschuss gescheitert, und auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages sprachen sich mehrfach gegen die Erklärung des „Holodomor“ zum Völkermord aus.
Worum geht es und was hat diesen Sinneswandel bewirkt?
1932/33 gab es in der Sowjetunion eine furchtbare Hungersnot. Die wurde durch planvolle Entscheidungen der sowjetischen Führung wenn nicht verursacht, so doch erheblich verschärft. Priorität hatte die Industrialisierung, und diesem Ziel wurde namentlich die Landbevölkerung geopfert – in Westeuropa war vom 17. bis 19. Jahrhundert die Industrialisierung durch Ausraubung der Kolonien (die Sowjetunion hatte keine), durch Sklavenhandel und ebenfalls durch Ausplünderung der Bauernschaft finanziert worden (was die damalige Hungerkatastrophe in der Sowjetunion nicht weniger furchtbar macht). In keiner Sowjetrepublik starben während der Hungersnot so viele Menschen wie in der Ukraine – es waren Millionen; aber in Kasachstan war der Prozentsatz der Hungertoten an der Gesamtbevölkerung am höchsten.
Und warum jetzt der Sinneswandel im Bundestag, und zudem genau bei den Parteien, deren Vertreter*innen zuvor im Petitionsausschuss gegen die Anerkennung des „Holodomor“ als Völkermord gestimmt hatten? Die Antwort ist kurz: Der Ukraine-Krieg hat ihn bewirkt, und es hätte dazu wahrscheinlich nicht einmal des Drucks der ukrainischen Führung und ihres damaligen Vertreters in Deutschland, Melnyk, bedurft – den es tatsächlich gab.
„Für die Ukraine ist der Holodomor ein zutiefst traumatisches, grausames und leidvolles Kapitel der eigenen Geschichte,“ heißt es in der Erklärung des Bundestags. Und weiter: „Der Holodomor prägt das nationale Bewusstsein dieses großen, europäischen Landes, das sich von der sowjetischen Vergangenheit gelöst hat. Die Ukraine hat sich in den letzten Jahren auf den Weg in die Europäische Union gemacht und im Juni 2022 den Kandidatenstatus erhalten.“ Ach so – es geht anscheinend um den EU-Beitritt der Ukraine! Was hat der aber mit der Bewertung des „Holodomor“ zu tun? Weiter im Text: „Der Holodomor ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte als Europäerinnen und Europäer.“ Das soll wohl heißen: Die Ukraine gehört jetzt zu Europa, „die“ Russen, die das Verbrechen begingen, aber nicht (mehr). „Asiatische Despotie“ gegen hehre europäische Werte! „Er [erg.: der „Holodomor“] reiht sich ein in die Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme, in deren Zuge vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen Menschenleben ausgelöscht wurden.“ Dieser Satz verdient besondere Aufmerksamkeit: Er stellt die Singularität des Holocaust infrage. Da wird dieses Kapitel Geschichtspolitik besonders brisant. Und das können wir auf gar keinen Fall akzeptieren! – Übrigens: Der ähnliche Klange der Begriffe „Holocaust“ und „Holodomor“ ist zufällig, aber Geschichtsrevisionisten durchaus willkommen!
Im weiteren Verlauf geht es dann um unsere „Verantwortung, das Wissen um dieses Menschheitsverbrechen zu verbreiten“, „die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit für die Thematik des Holodomor“. Und dann kommen die Autoren*innen auf den „völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine“ und wenden sich gegen „Großmachtstreben und Unterdrückung“, natürlich seitens Russlands.
Und schließlich fordert der Bundestag, nicht nur „jeglichen Versuchen, einseitige russische historische Narrative zu lancieren, weiterhin entschieden entgegenzuwirken“, sondern auch, „historische Erfahrungen [erg.: in Osteuropa] wahrzunehmen und blinde Flecken in der deutschen Perspektive auf unsere gemeinsame, europäische Geschichte zu erhellen“ – in Osteuropa gibt es schon lange Bestrebungen, die in Westeuropa vorherrschende Fokussierung der Erinnerungskultur auf den Faschismus und seine Verbrechen zu bekämpfen, ihr ein anderes Narrativ entgegenzusetzen – und dann schließlich: „4. die Ukraine als Opfer des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands und der imperialistischen Politik Wladimir Putins im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch zu unterstützen.“ Da haben wir den wahren Grund für die Bundestagsresolution gefunden! Ideologische Propaganda im Rahmen der Kriegsunterstützung, und deshalb dieser massive Eingriff in die wissenschaftliche Forschung und Debatte!
Noch kurz zur Vorgeschichte der Resolution: 2000 verabschiedete eine Konferenz in Stockholm Grundsätze zur Holocaust Education. In der Wissenschaft wurden sie auch schon einmal als Entréebillet für die Aufnahme von Staaten aus Ost- und Südosteuropa in die EU bezeichnet. Als diese Staaten dann ab 2004 tatsächlich in die EU aufgenommen wurden, begannen sie, in deren Gremien (Parlament, Kommission, Rat) ein neues Masternarrativ durchzusetzen, mit zunehmendem Erfolg: Die Zurückdrängung der Erinnerung an den Faschismus und seine Verbrechen, dessen Gleichsetzung mit den Verbrechen des Stalinismus, die Relativierung der faschistischen Verbrechen und die Rehabilitierung osteuropäischer, namentlich baltischer und ukrainischer, Nazikollaborateure. So konnten sie etliche Beschlüsse und Erklärungen des EU-Parlaments durchsetzen, u.a. dass der 23. August, der Jahrestag des Nichtangriffsvertrages zwischen Nazideutschland und der UdSSR, zum offiziellen Gedenktag der EU erklärt wurde; der Tag symbolisiere den Beginn des Zweiten Weltkriegs und die sich daraus ergebende jahrzehntelange Vorherrschaft der UdSSR in Ost- und Südosteuropa. Von den Kriegsplanungen Hitlerdeutschlands ist da nie die Rede, und teilweise werden sie sogar geleugnet. Schließlich steht in Brüssel inzwischen ein viele Millionen teures Museum mit 7.000 m² Ausstellungsfläche, das dieses osteuropäische Masternarrativ verbreitet. Auch in Deutschland gilt der 23. August als offizieller Gedenktag, seit einem Bundestagsbeschluss von 2013. Nur begeht ihn niemand – glücklicherweise. Dabei soll es bleiben! Alles andere wäre Geschichtsrevisionismus.
Ganz aktuell: In Tübingen wird darüber diskutiert, aus Solidarität mit der Ukraine eine Partnerschaft mit einer Stadt in der Ukraine einzugehen, wie das „Schwäbische Tagblatt“ berichtete. Eine Stadt kam nicht infrage, weil ihr Bürgermeister einer faschistischen Partei angehört. Jetzt ist Krementschuk im Südwesten des Landes im Gespräch. Als Erstes habe ich versucht, über Google herauszufinden, ob dort ein Denkmal für den heutigen Nationalhelden Bandera steht, einen Nazikollaborateur, dessen Anhänger aktiv am Holocaust beteiligt waren, oder ob eine Straße oder ein Platz nach ihm benannt ist. Das sind die Probleme, wenn man sich heute mit der Ukraine einlässt.
Bleibt wachsam! Das ist die Mahnung des 8. Mai, auch und gerade jetzt in diesen kriegerischen Zeiten! Habt den Mut, Euch Eures Verstandes zu bedienen, und schweigt nicht zu militaristischen, geschichtsrevisionistischen und faschistischen Tendenzen!