75 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
19. April 2024
AN24-2, Geschichte, Grundgesetz
Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) in Kraft. Es wurde als Provisorium angesehen, weil es auch für die Menschen gelten sollte, „… denen es versagt war, daran mitzuarbeiten …“ Deshalb wurde es auch nicht als „Verfassung“ bezeichnet. Eine solche sollte erst verabschiedet und so lange zurückgestellt werden, bis es allen Deutschen möglich wäre, daran mitzuwirken – also eben gerade auch jenen, die damals nicht in der französischen, britischen oder US-amerikanischen Besatzungszone im Westen lebten, sondern in der sowjetischen im Osten.
Zur Vorgeschichte
Am 9. November 1918 begann mit dem Aufstand der Kieler Matrosen gegen die Lasten des ersten Weltkriegs die Novemberrevolution, in deren Folge Philipp Scheidemann (SPD) die Republik ausrief. Die Arbeiterschaft und andere demokratische Kräfte setzten im Verlauf dieser bürgerlichen Revolution durch, dass das Deutsche Reich eine parlamentarische Demokratie wurde („Weimarer Republik“). Grundlegende Reformen der Wirtschaft und des konservativ-reaktionären Staates wurden hingegen nicht erreicht. Spätestens seit der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 wurde die parlamentarische Demokratie konsequent beseitigt. Der letzte Schritt war am 30. Januar 1933 die Übertragung der Reichskanzlerschaft an Hitler und damit der staatlichen Macht an die NSDAP – mit Billigung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und der reaktionären Elemente des Staates, insbesondere der Reichswehr. Die Arbeiterbewegung und die bürgerlichen Demokraten hatten versagt. Der Faschismus mit einem Terrorregime, das selbst vor dem industriellen Massenmord nicht zurückschreckte, war an der Macht, die Demokratie beseitigt.
Spätestens nach der Niederlage von Stalingrad am 2. Februar 1943 gab es bei führenden Militärs der Wehrmacht die Einschätzung, dass der Krieg nicht zu gewinnen sei. 1944 begann der spätere CDU-Bundeskanzler Ludwig Erhard als damaliger Leiter des Instituts für Industrieforschung im Reichssicherheitshauptamt mit der Ausarbeitung einer Konzeption für eine neue Währung und Nachkriegswirtschaftsordnung (nachzulesen u.a. bei Bernt Engelmann und Hans Küng). Schon damals war unter der Hand für die Nazi-Elite absehbar, dass das Deutsche Reich in der bisherigen Form nicht weiter existieren könne. Ebenso war ihr klar, dass eine Standortverlagerung von Firmensitzen (z.B. Dresdner Bank, Magdeburger Versicherungen) nach Westen sicherer war. Lange bevor Flüchtlinge kamen, wanderten Dokumente und Wertgegenstände von Ost nach West.
Entwicklung ab 1945
Es gibt also kein scharfes Datum, wann der „Kalte Krieg“ und damit die Spaltung Deutschlands einsetzte. Unbestritten ist aber, dass im Ergebnis des „Kalten Kriegs“ im Westen am 1. Januar1947 die Bizone gebildet wurde – Frankreich hatte zunächst Vorbehalte. Diese wurden ab März 1948 durch den Beitritt der drei Westalliierten zum Marshallplan allmählich ausgeräumt, am 8. April 1949 wurde die Bizone formal zur Trizone (ohne das Saarland). Schon am 20. Juni1948 war in der Trizone eine neue Währung, die Deutsche Mark (DM) eingeführt worden. Dieser Schritt zementierte im Grunde die deutsche Teilung.
Parallel zu dieser Entwicklung wurden am 26. Juli 1948 zwischen den Militärgouverneuren und den Länderchefs der drei Zonen Absprachen über die Einrichtung des Parlamentarischen Rates (PR) getroffen. Der bestand aus 65 Mitgliedern, die von den Landesparlamenten gewählt wurden; hinzu kamen fünf von der Stadtverordnetenversammlung (West-)Berlins gewählte, nicht stimmberechtigte Mitglieder. CDU/CSU und SPD stellten je 27 stimmberechtigte Räte, die FDP 5, Zentrumspartei, KPD und die liberale Deutsche Partei je 2. Im August wurde ein Verfassungsentwurf ausgearbeitet, am 8. Mai 1949 wurde das Grundgesetz im PR mit 53:12 Stimmen gebilligt. Zehn von elf Länderparlamenten stimmten zu, lediglich Bayern lehnte es ab. Sowohl im PR als auch in den Länderparlamenten wurde die für die Verabschiedung erforderliche 2/3-Mehrheit erreicht, das GG wurde am 23. Mai1949 in Bonn verkündet.
Wesentliche Inhalte des Grundgesetzes waren die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Definition von Grundrechten als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, Gleichberechtigung von Frau und Mann, die Festlegung der Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Rechtsstaat, die Eigentumsgarantie, aber auch die Sozialbindung des Eigentums und die Möglichkeit der Sozialisierung. Nicht verankert wurden hingegen einklagbare soziale Rechte, wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Wohnen, aber auch die Wirtschaftsordnung.
Weitere wichtige Inhalte waren – als Konsequenz des Scheiterns der Weimarer Republik, in der der Reichspräsident umfassende zentralistische Vollmachten innehatte – die Rolle des Bundestags als gesetzgebendes Organ, der föderale Aufbau nach Bund und Ländern und die Beschränkung der Rolle des Bundespräsidenten auf repräsentative Zwecke.
Mit dem GG wurde formal ein westdeutscher Teilstaat gegründet. Als Reaktion darauf entstand in der sowjetischen Besatzungszone am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik. Wie die folgenden Jahre zeigen sollten, war es in der Bundesrepublik möglich, die wirtschaftlichen Verhältnisse zu restaurieren. Die alten Eliten blieben an der Macht. Schwerbelastete Nazis setzten ihre Karriere meist unbehelligt fort.
Im Potsdamer Abkommen hatten die Alliierten am 1. August 1945 festgelegt, Deutschland zu entnazifizieren, zu demilitarisieren, zu dezentralisieren und demokratisieren sowie die Rüstungsindustrie zu demontieren. Das Abkommen hatte jedoch keinen Vertragscharakter, sondern war nach westlicher Definition lediglich eine „Absprache“. Gleichwohl konnte der Parlamentarische Rat sich über wesentliche Punkte dieses Abkommens nicht hinwegsetzen. So war die Aufstellung von Streitkräften zunächst nicht vorgesehen, und in ein Artikel schrieb das Verbot der nationalsozialistischen Betätigung fest. Der Geist des GG entsprach also durchaus unserer Forderung: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“
Verkehrung ins Gegenteil
In den 75 Jahren seines Bestehens ist das GG häufig geändert worden. Eine besonders wichtige Änderung sei an dieser Stelle beleuchtet – das „Amt Blank“:
Schon in der ersten Wahlperiode des Bundestags (1949-1953) wurden Schritte zu Remilitarisierung ergriffen. Ab Oktober 1950 wurden im Kabinett Adenauer Vorbereitungen zur Schaffung eines Bundesverteidigungsministeriums geschaffen – unter der Tarnbezeichnung „Amt Blank“, benannt nach dem späteren ersten Verteidigungsminister Theodor Blank. Die Stimmung der Bevölkerung war jedoch stark antimilitaristisch. Als öffentlich bekannt wurde, dass in der Bundesrepublik eine Armee aufgestellt werden sollte, gab es eine große Volksbewegung dagegen.
Ziel war, zur geplanten Remilitarisierung eine Volksbefragung durchzuführen, was trotz staatlicher Repressionen auch gelang. Höhepunkt der Repressionen war der 11. Mai 1952 ein Polizeieinsatz gegen die Friedenskarawane in Essen, der in der Ermordung des Kommunisten Philipp Müller gipfelte. Die Bundesregierung leitete Verbotsverfahren gegen oppositionelle Organisationen ein; Am 17. August 1956 wurde die KPD verboten. Ein Verbotsverfahren gegen die VVN scheiterte, weil der vorsitzende Richter als schwerbelasteter Nazi entlarvt wurde. Im November 1955 beschloss der Bundestag die Aufstellung von Streitkräften. Mit dem Artikel 12a GG wurde das „Grundrecht“ der Wehrpflicht eingeführt, mit dem andere Grundrechte (insbesondere Art. 12 GG, Freiheit der Berufswahl) eingeschränkt und besondere Grundrechtseinschränkungen für Wehrdienstleistende geschaffen wurden (Art. 17a GG).
Die meisten GG-Änderungen wurden in der 5. Wahlperiode unter der ersten Großen Koalition vorgenommen. Diese Änderungen waren die sogenannten „Notstandsgesetze“. Die Änderungen betrafen nahezu den gesamten Grundrechtskatalog, aber auch Befugnisse von Polizei, Bundeswehr und Geheimdiensten. Gegen die „Notstandsgesetze“ gab es starken außerparlamentarischen Widerstand. Dieser kam von den Gewerkschaften des DGB, v.a. der IG Metall, wie auch von Studierenden („außerparlamentarische Opposition“). Der Widerstand führte dazu, dass einzelne ursprüngliche Zielsetzungen, wie etwa die Möglichkeit, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen, zunächst nicht durchgesetzt werden konnten. Trotzdem verabschiedete der Bundestag am 30. Mai1968 die Notstandsgesetze mit einer Mehrheit von 384:100 Stimmen.
Weitere GG-Änderungen, auf die wir hier nicht näher eingehen, folgten mit der Implosion des sozialistischen Staatensystems nach 1989/1990 (nun konnten auch die Deutschen mitmachen, denen es bisher „versagt war, daran mitzuarbeiten“), mit der Einschränkung des Asylrechtes in der 12. Wahlperiode (1990-1994) und der Einschränkung des Grundrechtes auf Unverletzlichkeit der Wohnung („Großer Lauschangriff“) in der 13. Wahlperiode (1994-1998).
Als bedeutendste aktuelle Änderung muss die Einführung eines Sondervermögens zu Gunsten der Bundeswehr im Juni 2022 erwähnt werden. Mit Artikel 87a GG erhielt die Bundeswehr eine eigene Kreditermächtigung von 100 Milliarden Euro.
Eine politische Bewertung kann in einem Satz zusammengefasst werden: Vom antifaschistischen und antimilitaristischen Ansatz des GG ist nur wenig übriggeblieben. Die Bundesrepublik wurde 1955 NATO-Mitglied; entsprechend der hieraus resultierenden „Bündnisverpflichtungen“ wurden die Grundrechte in einer Vielzahl von Änderungsverfahren eingeschränkt. Grundrechte sind Abwehrrechte gegen staatliche Willkür. Deren inhaltliche Auslegung wurde mehr und mehr der Interpretation von staatlicher Verwaltung, insbesondere dem „Verfassungsschutz“ und den Gerichten überlassen. Dies zeigt sich u.a. daran, dass Kritik an Bundeswehr, Polizei oder Justiz nach der sogenannten „herrschenden Meinung“, also der Meinung der Herrschenden, in die Nähe der „Verfassungsfeindlichkeit“ gerückt wird.
Ein „Meilenstein“ in dieser Entwicklung war der sogenannte „Radikalenerlass“ vom 28. Januar 1972. Unter der SPD-geführten Bundesregierung unter Willy Brandt sollten Menschen, die „nicht die Gewähr dafür bieten, jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten“, aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder gar nicht erst eingestellt werden. Die Berufsverbotepraxis führte zu einer starken Widerstandsbewegung im Inland und scharfen Protesten im Ausland. Mit Erfolg: 1995 entschied der europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Anwendung von Berufsverboten den Kernnormen des internationalen Arbeitsrechtes widerspricht.
Weniger spektakulär, doch auch bezeichnend mit dem Umgang von Verfassungsnormen war das Ergebnis der Berliner Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen“. Unter Berufung auf Artikel 15 GG (Sozialisierung) sammelte die Berliner Initiative Unterschriften für einen Volksentscheid. Am 26. September 2021 stimmten 59,1 Prozent der Berliner, die sich an der Abstimmung beteiligt hatten, für die Enteignung. Das Ergebnis wurde jedoch vom Berliner Senat bis heute nicht umgesetzt.
Fazit
Die derzeitige politische Entwicklung läuft darauf hinaus, weitere Kernnormen des GG zu verwässern oder gar zu schleifen. Dazu gehört die Aufweichung des Verbotes zur Vorbereitung eines Angriffskrieges durch Militärmanöver wie „Defender 2024“ oder die „atomare Teilhabe“ der Bundesrepublik. Dazu gehören auch die Einschränkung der Versammlungsfreiheit, die Verschärfung der Polizeigesetze und die Ausdehnung geheimdienstlicher Befugnisse sowie die Wiederbelebung des „Radikalenerlasses“- unter dem Vorwand, gegen Rechtsextremisten vorzugehen.
Der KPD-Abgeordnete und aktive Widerstandskämpfer Max Reimann zog 1949 das Fazit für die KPD: „Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, an dem wir Kommunisten das Grundgesetz gegen diejenigen verteidigen, die es angenommen haben.“
Es kann nicht nur das Anliegen einer schon 1956 verbotenen Partei sein, dieses Gesetz zu verteidigen. Es muss das Anliegen aller Demokraten sein!