Christine Margarete Kegreiß: Ein Euthanasiefall in Tailfingen
19. April 2024
Im Herbst 2022 fragte mich ein Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde Gäufelden-Tailfingen, ob ich etwas zu Christina Margareta Kegreiß herausfinden könnte. Und ob man nicht zu ihrer Erinnerung einen Stolperstein anbringen sollte. Laut Tailfinger Sippenbuch war die blinde, 1895 in Tailfingen als uneheliche Tochter von Christine Margarete Kegreiß (1870 -1900) geborene Frau am 8. Mai 1944 in Stadtroda (Thüringen) gestorben. Gerüchten zufolge soll sie zuvor aber nach Grafeneck gekommen sein: Ältere Tailfinger erzählten, dass sie aus Tübingen oder Schwäbisch Gmünd „heimgebracht“ und später „abgeholt“ worden sei.
Eine entsprechende Nachfrage in der Gedenkstätte Grafeneck ergab, dass sie „mit Sicherheit nicht“ dort gewesen war; die Einrichtung wurde bereits im Dezember 1940 geschlossen. Nach aktuellem Forschungsstand seien „überhaupt keine Tailfinger“ nach Grafeneck gekommen.
Vom Standesamt Stadtroda erhielt ich dann kurz vor Weihnachten 2022 die Kopie einer Todesmeldung vom 9. Mai 1944. Aus der ging hervor, dass „die berufslose Christina Margareta Kegreiß, evangelisch, wohnhaft in Schwäbisch Gmünd, Blindenasyl, … am 8. Mai 1944 um 6 Uhr 00 Minuten in Stadtroda in dem Thüringischen Landeskrankenhaus verstorben“ sei. Als Geburtsdatum der „nicht verheirateten“ Frau war der 9. November 1895 und die Nummer 22/1895 des Standesamts Tailfingen Kreis Böblingen angegeben. Und als Todesursache: „Herzschwäche bei Lungentuberkulose.“
Eine Nachfrage beim Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd ergab: Margareta Kegreiß lebte vom März 1936 bis November 1943 im Gmünder Blindenasyl. Das wurde vom Blindenheim im November 2023 bestätigt: „… nach Sichtung unserer leider lückenhaften Archivunterlagen konnten wir feststellen, das Frau Margarete Kegreiß von Tailfingen-Herrenberg von 1936 bis Herbst 1940 – danach fehlen entsprechende Unterlagen – im Blinden-Asyl war, wie damals unsere Einrichtung firmierte. Weitere Unterlagen/Nachweise über ihren Verbleib bzw. die Verlegung Ihres Aufenthaltsortes sind nicht mehr vorhanden“.
Vom Staatsarchiv Altenburg, das den Bestand des Landesfachkrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Stadtroda (und Vorgänger) verwahrt, erhielt ich die Kopie einer kleinen Karteikarte (Abb.) der folgende Angaben zu entnehmen sind: Margareta Kegreiß hatte die „Befähigung“ einer Bürstenmacherin „erreicht“, sie wurde als „asozial“ eingestuft, hatte sich 1933 in der Frauenklinik Tübingen behandeln lassen, war blind, litt an einer „offenen Lungenentzündung“ und verstarb am 8. Mai 1944 an einer „Herzschwäche“. Über ihre „Sippe“ ist zu erfahren, dass die Mutter an Tuberkulose verstorben war, dass auch die Großeltern nicht mehr lebten und dass sie bei dem Landwirt Karl Kegreiß in Tailfingen aufgewachsen war.
Auf Anfrage schrieb mir Susanne Rieß-Stumm vom Archiv der Eberhard-Karls-Univesrität Tübingen im Dezember 2023:
„… aus den Unterlagen der Frauenklinik geht hervor, dass Margarete Kegreiß vom 19.07. bis 29.08.1933 in der Frauenklinik behandelt wurde. Den beiden OP-Büchern für diesen Zeitraum konnte ich entnehmen, dass Margarete Kegreiß wegen eines Myoms am 20.07.1933 operiert wurde. Weitere Unterlagen konnte ich nicht ermitteln (die Krankenakten sind aus dieser Zeit leider nicht vollständig überliefert)“.
Vermutlich kam sie von dort wieder „nach Hause“ nach Tailfingen.
Von 1936 bis (40 oder 43?) war sie im Blindenasyl Schwäbisch Gmünd und kam von dort offenbar direkt nach Stadtroda. Ob sie da schon krank war und ihre Krankheit der Grund der Verlegung war, bleibt offen. Die Nennung der Todesursache „Herzschwäche“ allerdings ist typisch für fiktive Angaben, wie wir sie auch von Tailfinger KZ-Opfern kennen.
„Zur Praxis der Täter gehörte es, falsche Todesdaten und -ursachen zu beurkunden. So sollte die Tat vertuscht und als normaler Todesfall getarnt werden. In manchen Fällen schickten sich die Sonderstandesämter gegenseitig Akten zu, um sich gegenseitig Todesfälle zu beurkunden. Man spricht in der Forschung hierbei vom sogenannten Aktentausch.“ (Daniel Hildwein).
Ob, warum und in welchem Transport Margareta Kegreiß tatsächlich ausgerechnet in das weit entfernte Stadtroda gebracht wurde, wissen wir nicht. Dass sie dort starb, ist aber relativ sicher, und es handelt sich wohl nicht um einen Aktentausch.
In Stadtroda wurden jedoch alle Spuren verwischt: Eine Anfrage beim Arbeitskreis Krankenhausgeschichte ergab, dass die zwischen 1995 und 2000 Suche nach Gräbern von Patienten aus der NS-Zeit auf dem ehemaligen Krankenhausfriedhof und jetzigem Friedhof ergebnislos verlief. Außer einer kleinen Informationstafel im Turm-Durchgang und einem Mahnmal als Erinnerungsort im Krankenhauspark, an dem „oft Blumen oder Kerzen abgelegt werden“, sei nichts mehr zu finden. Nach Auskunft von Rente Renner sei in seltenen Fällen den Patientenakten zu entnehmen, „dass die Leichen der Opfer in verschiedenen Krematorien der umliegenden Orte verbrannt wurden. Die Spuren sollten verwischt werden.“
Eine Anfrage in Jena ergab: „Ich habe im Leicheneingangsbuch unseres Anatomischen Institutes nachgesehen und fand für den in Frage kommenden Zeitraum (Tage ab 8. Mai 1944) keinen Eintrag für die von Ihnen genannte Frau Kegreiß. Ein eigener Euthanasie-Friedhof in Jena oder in Stadtroda ist mir nicht bekannt. Wir haben aus Stadtroda einige Leichname in den 1940er Jahren bekommen, im Jahr 1944 aber nur wenige.“
Auch nach dem sogenannten. „Euthanasie-Stopp“ am 24. August 1941 war das Töten weitergegangen. Menschen wurden nicht mehr zentral vergast, sondern in ihren jeweiligen Heilanstalten getötet, auch in Stadtroda. Renate Renner: „Auf die Anstalten wurde durch Herabsetzung der Pflegesätze, Verschlechterung der Nahrungsqualität, Mangel an Heizmaterial und Wasser, Medikamenten und Personal Druck ausgeübt, wodurch die Sterberate anstieg. … An Therapie gab es Insulin- und Azomanschock und auch schon die Elektrokrampfbehandlung, an Medikamenten hauptsächlich Veronal und Lepinal. … Außerdem gibt es andere Zeugen, die über die tödliche Wirkung von Injektionen berichten. … Hinweise für aktive Tötung ergibt sich nur aus den Zeugenaussagen nach Kriegsende. Bei der Durchsicht von ca. 800 Krankengeschichten von verstorbenen Patienten fand ich keinen Eintrag, der einen Krankenmord durch Überdosis an Medikamenten belegen könnte. Das spricht dafür, dass das Prinzip der Verschleierung eingehalten wurde“.
Laut Renner gibt es viele Beispiele dafür, dass bei Erkrankungen wie Epilepsie, Tuberkulose, Fieber, Lungenentzündung oder Durchfall eine Therapie unterlassen wurde. Nach Zeugenaussagen handelte es sich „bei den getöteten erwachsenen Patienten häufig um psychisch Kranke, welche eine zusätzliche Erkrankung aufwiesen…1944 starben in Stadtroda 241 Patienten“.
Die Familie Karl und Katharina Kegreiß (Kegreiss), geb. Plaz, wohnte in der Hauptstr. 53 in Tailfingen. Christina Margareta Kegreiß war die Nichte von Karl Kegreiss, Mutter Christine Margarete Kegreiß seine Schwester. Nach dem Tod der Mutter wurde Karl Kegreiß jun. als „Pfleger“ für seine Cousine eingesetzt.