Die EU: Von der Zivilmacht zur Rüstungsunion

geschrieben von Jürgen Wagner (IMI)

19. April 2024

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Von der Strategieplanung bis hin zur Streitkräfteentwicklung: Mit einem erschreckenden Tempo bewegt sich die einstige Zivilmacht Europa in den letzten Jahren immer mehr in Richtung einer Rüstungsunion, wie der folgende Überblick verdeutlichen soll.

EUGS – SK – CARD – PESCO

Auf europäischer Ebene existiert ein recht geschlossener Verteidigungsplanungsprozess, an dessen Spitze die „Europäische Globalstrategie“ (EUGS) aus dem Jahr 2016 steht. Sie definiert allgemeine Ziele und Interessen, wozu ein „offenes internationales Wirtschaftssystem“ mit „fairen und offenen Märkten“ sowie der „Zugang zu natürlichen Ressourcen“ zählen. Zugleich heißt es, man wolle als „globaler Akteur auftreten“, was wenig verklausuliert der Anspruch auf einen Platz am Tisch der Großmächte ist. Das bedeute, bei „Bedarf selbstständig handeln zu können“, wofür „strategische Autonomie“ zentrale Bedeutung habe. Hierfür sei es erforderlich, „militärische Spitzenfähigkeiten“ zu erlangen, dafür müsse „das gesamte Spektrum an land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten, einschließlich der strategischen Grundvoraussetzungen, zur Verfügung stehen.“

Für „den Erwerb und die Aufrechterhaltung eines Großteils dieser Fähigkeiten“ sei allerdings eine Bündelung des Rüstungssektors nötig, was Strukturen erfordere, damit die Mitgliedsstaaten künftig in diesem Bereich die „Zusammenarbeit als den Regelfall betrachten.“ Dies soll auch zur Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie beitragen: „Eine tragfähige, innovative und wettbewerbsfähige europäische Verteidigungsindustrie ist von wesentlicher Bedeutung für die strategische Autonomie Europas und eine glaubwürdige GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik].“ (Rat der EU 2016)

Seit März 2022 werden mit dem regelmäßig aktualisierten „Strategischen Kompass“ (SK) Bedrohungen dieser Interessen identifiziert und „Militärische Zielvorgaben“ formuliert, die teils auch Truppengrößen u.ä. benennen. Darin werden Russland und China explizit als Bedrohung („Systemrivalen“) eingestuft, während die USA weiterhin – zumindest offiziell – als wichtiger Partner firmieren. Kurzfristig wird darin der Aufbau einer unabhängig von der NATO und damit den USA einsetzbaren Interventionstruppe in Brigadegröße (ca.5.000) bis 2025 anvisiert. Mittel- bis langfristig wird aber als Ziel die Fähigkeit ausgeben, auch größere Militäreinsätze autonom, also unabhängig von NATO und USA, durchführen zu können.

So aufgestellt werden auf der nächsten Ebene im „Plan zur Fähigkeitsentwicklung“ (engl. CDP) Prioritäten festgelegt, welche Fähigkeitslücken zuerst angegangen werden sollen, während die „Koordinierte jährliche Überprüfung der Verteidigung“ (CARD) den Abgleich vorhandener Fähigkeiten und die Identifizierung möglicher Kooperationsprojekte zum Zweck hat. Umgesetzt werden diese Projekte inzwischen vor allem im Rahmen der 2017 aktivierten „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO).

Mittlerweile nehmen 26 Mitgliedsstaaten an der PESCO teil. Das ist allerdings an die Einhaltung von 20 teils sehr ambitionierten Kriterien gebunden, bei deren Verletzung im Extremfall der Rauswurf droht. Darüber hinaus werden die Teilnehmer grundsätzlich darauf verpflichtet, sich am CARD-Prozess zu beteiligen, Truppen für europäische Gefechtsverbände zu stellen sowie an mindestens einem großen länderübergreifenden Rüstungsprojekt teilzunehmen. Ferner gibt es eine „Verpflichtung zur Ausarbeitung harmonisierter Anforderungen“ und die „Zusage, sich auf gemeinsame technische und operative Standards der Streitkräfte zu einigen.“ Wichtig ist auch die Feststellung, dass alle hierüber angebahnten Rüstungsprojekte „nur Einrichtungen zugutekommen dürfen, die nachweislich im Hoheitsgebiet der EU Mehrwert erbringen.“ Es geht also explizit darum, einen europäischen Rüstungskomplex anzufüttern und nicht etwa US-amerikanischen Unternehmen Profite zuzuschanzen.

Die PESCO-Teilnahme ist allein deshalb von erheblicher Bedeutung, weil die Projekte bevorzugt und mit erhöhtem Zuschuss (30 statt sonst 20 Prozent) aus dem „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EDF) finanziert werden können.

EDF – EPF – EDIS – EDIP

Dass EU-Haushaltsgelder überhaupt für Rüstungszwecke verwendet werden, ist alles andere als selbstverständlich. Schließlich verbietet Artikel 41 (2) des EU-Vertrages, bei Maßnahmen der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP) für „Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen“ auf den EU-Haushalt zurückzugreifen. Die Kommission versucht dieses Verbot zu umgehen, indem sie fast alle neuen Rüstungstöpfe der Industriepolitik zuordnet. Allerdings ist dies rechtlich mehr als fragwürdig, wie ein 2018 im Auftrag der damaligen Linksfraktion erstelltes Gutachten von Andreas Fischer-Lescano ergab: er bezeichnete das Vorgehen als eine „Militarisierung auf den Trümmern des Rechts“.

Fast alle neuen Militärbudgets basieren auf der ebenfalls zumindest fragwürdigen Annahme, dass eine Konzentration des aktuell noch auf viele Einzelstaaten verteilten europäischen Rüstungssektors mit erheblichen Effizienzsteigerungen einhergehe. Die Gelder sollen also die Herausbildung eines deutsch-französisch dominierten europäischen Rüstungskomplexes fördern. Im Zentrum steht dabei der Europäische Verteidigungsfonds, ein für die Jahre 2021 bis 2027 mit rund 8 Mrd. Euro befüllter – und kürzlich um weitere 1,5 Mrd. aufgestockter Topf. Als Industriepolitik getarnt werden über ihn die Erforschung und Entwicklung länderübergreifender Rüstungsprojekte aus dem EU-Haushalt finanziert. Im selben Zeitraum stellt die außerhalb des EU-Haushalts angesiedelte „Europäische Friedensfazilität“ (EPF) aktuell 12 Mrd. Euro vor allem für Waffenlieferungen insbesondere an die Ukraine bereit.

Voriges Jahr kamen dann noch die Programme zur Ankurbelung der europäischen Munitionsproduktion (ASAP) und zur Finanzierung länderübergreifender Rüstungskäufe (EDIRPA) dazu. Als „historischen Moment“ bejubelte CDU-Verteidigungsexperte Michael Gahler die mit EDIRPA erstmals eröffnete Möglichkeit, sich bei Rüstungskäufen aus dem EU-Haushalt bedienen zu können. Und als „beispiellos“ für einen Wechsel in den „Kriegswirtschaftsmodus“ bezeichnet Industriekommissar Thierry Breton das ASAP-Maßnahmenpaket. In der ASAP-Verordnung werden unter anderem folgende finanzierbare Maßnahmen aufgelistet: „Optimierung, Modernisierung, Verbesserung oder Umwidmung vorhandener oder die Schaffung neuer Produktionskapazitäten in diesem Bereich [Munitionsproduktion] sowie die Schulung von Personal.“ Trotz aller Euphorie blieb aber der Wermutstropfen, dass beide Programme sowohl zeitlich (bis 2025) und finanziell mit 500 Mio. Euro (ASAP) bzw. 300 Mio. Euro (EDIRPA) limitiert sind, ein Umstand, der mit zwei neuen Initiativen überwunden werden soll.

Mit Details hält sich die Kommission bedeckt, zuletzt sprach man von einer Veröffentlichung Anfang März 2024 (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe). Aus diversen Äußerungen ist aber ersichtlich, dass eine neue Industriestrategie (engl. EDIS) die Produktionskapazitäten der Rüstungsindustrie über den Munitionsbereich hinaus zeitlich unbefristet „verbessern“ soll. Geplant sind zum Beispiel eine Erfassung vorhandener Produktionsfähigkeiten, das permanente Vorhalten zusätzlicher Produktionskapazitäten sowie bei Lieferengpässen kritischer Rohstoffe eine Art Vorfahrt für die militärische vor der zivilen Nutzung kritischer Materialien. Außerdem wird in einem Vorbereitungspapier der Kommission laut euractiv (6.12.2023) unter anderem auch über Maßnahmen folgender Art nachgedacht: „Weitere Beispiele sind Lagerbestände an Wartungs- und Reparaturmaterial, kritischen Ersatzteilen, Munition, Reserven, flexiblen Produktionskapazitäten sowie die Zusammenlegung und gemeinsame Nutzung spezifischer industrieller Kapazitäten.“

Die Idee für ein Investitionsprogramm (engl. EDIP) tauchte bereits relativ früh in einer Kommissionsmitteilung im Mai 2022 auf. Im Kern steht seither die Idee, dass sich mehrere Mitgliedsstaaten ein Konsortium für Verteidigungsfähigkeiten (EDCC) bilden können, um sich die gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern aus dem EU-Haushalt bezuschussen und dabei von der Mehrwertsteuer befreien zu lassen. In der besagten Kommissionsmitteilung „Analyse der Defizite bei den Verteidigungsinvestitionen und die nächsten Schritte“ heißt es dazu: „[EDCC] beschaffen gemeinsam Verteidigungsfähigkeiten zur Nutzung durch die beteiligten Mitgliedstaaten, die in der EU in Zusammenarbeit entwickelt werden und für eine Mehrwertsteuerbefreiung infrage kommen. […] Die Mehrwertsteuerbefreiung würde auch für den Betrieb, die Wartung und die Stilllegung gelten, die während des gesamten Lebenszyklus von Verteidigungsgütern mit erheblichen Kosten verbunden sind.“ Die Hoffnung der Kommission ist es augenscheinlich, damit eine neue Sprosse auf der Militarisierungsleiter zu erklimmen: „Die EDIP-Verordnung könnte als Dreh- und Angelpunkt für künftige gemeinsame Entwicklungs- und Beschaffungsprojekte von hohem gemeinsamen Interesse […] dienen, insbesondere bei Projekten, die kein Mitgliedstaat allein entwickeln oder beschaffen könnte.“

Insbesondere die Mehrwertsteuerbefreiung wäre der eigentliche Clou an EDIP, da es hier zunächst einmal weiter um relativ überschaubare direkte Zuschüsse gehen dürfte – bislang ist die Rede von 1,5 bis maximal 3 Mrd. Euro in den nächsten zwei bis drei Jahren, doch das dürfte wie üblich erst der Anfang sein.

Geschlossener Rüstungskreislauf

Seit einiger Zeit trommeln interessierte Kreise für die Auflage eines üppig ausgestatteten EU-Rüstungsfonds, der alles Bisherige in den Schatten stellen würde. Mittlerweile wird die Idee auch von höchsten Stellen unterstützt, besondere Beachtung fand dabei die am 9. Januar 2024 erfolgte Äußerung von Industriekommissar Thierry Breton, die er im Zusammenhang mit der geplanten Vorstellung von EDIS und EDIP tätigte – sogar ein genaues Preisschild lieferte er gleich mit: „Um sicherzustellen, dass die gesamte Industrie mehr und mehr zusammenarbeitet, brauchen wir Anreize […]. Ich glaube, dass wir einen riesigen Verteidigungsfonds brauchen, um zu helfen, ja sogar zu beschleunigen. Wahrscheinlich in der Größenordnung von 100 Milliarden Euro.“

Es sei allerdings dann an der nächsten EU-Kommission, die spätestens wohl Anfang 2025 die Arbeit aufnehmen wird, diesen Fonds konkret auf die Schiene zu setzen – ob es wirklich dazu kommen wird, ist aktuell noch unklar. Außer Frage steht allerdings, dass man auf EU-Ebene einen geschlossenen Rüstungskreislauf etabliert hat. Überaus zufrieden bilanzierte jedenfalls Ratspräsident Charles Michel Ende 2023 das Ergebnis der letzten Monate: „Die Geschichte wird ein Urteil fällen, aber ich bin ernsthaft der Ansicht, dass unsere Verteidigungsunion in den Stunden nachdem russische Panzer über die ukrainische Grenze rollten, geboren wurde. […] Wir haben mit zahllosen Tabus gebrochen […]. Wir taten, was nur wenige Wochen zuvor undenkbar gewesen wäre: die gemeinsame Beschaffung militärischen Geräts, die Nutzung des EU-Haushalts zur Steigerung der militärischen Produktionskapazitäten und die Finanzierung gemeinsamer Forschung und Entwicklung im Verteidigungsbereich.“