Auf den Spuren der Familie Gingold – Gedanken eines Nachgeborenen

geschrieben von Jannik Renz

10. Juni 2025

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Peter Gingold:

Peter Gingold kam als Sohn von Esther und Moritz Gingold 1916 in Aschaffenburg zur Welt. Peters Eltern waren 1912 von Polen nach Deutschland emigriert, zunächst nach Frankfurt a. M., mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs dann nach Aschaffenburg. Sie waren polnische Juden, jedoch war Polen bis 1919 kein souveräner Staat. Als Peter 13 Jahre alt war, ist die Familie wieder nach Frankfurt a. M. umgesiedelt. Peter selbst sagt, dass er „politisch (…) von zu Hause kaum etwas mitbekommen“ habe. Jedoch habe sein Vater, der als Konfektionsschneider arbeitete, „(…) instinktiv mit Sympathie alle Nachrichten von Arbeiterkämpfen, vor allem solche, die sich gegen das Aufkommen der Nazibewegungen richteten“), verfolgt.

Noch „politisch unbefleckt“ sieht der jugendliche Peter die hohe Arbeitslosigkeit und den Frust und die Gewalt, die in der Endphase der Weimarer Republik um sich greifen. Mit dem Aufkommen der Nazis „ entstanden dann Straßenschlachten, meist wurden ‚die Braunen‘ in die Flucht geschlagen“. Mit 14 Jahren tritt er dem Zentralverband der Angestellten (ZdA) bei, über die er sich weiter politisierte. Ein Jahr später tritt er dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) bei.

Am 20. Juli 1932, dem Tag des Papen-Staatsstreichs, schildert Peter ein Erlebnis, das seine spätere Haltung stark mitgeprägt hat: „Die KPD wie auch die SPD hatten zur Massenkundgebung aufgerufen, aber getrennt. Ich bin (…) zur SPD-Kundgebung beordert worden, um dort unsere Flugblätter zu verteilen und für ein Zusammengehen zu werben. Sie sind mir aus den Händen gerissen und zerrissen worden: und mich hat man hinaus geworfen. So unüberbrückbar war die Kluft“. Hätten SPD, KPD und die Gewerkschaften im entscheidenden Moment zusammengestanden, wäre „1933“ verhindert worden, so die These der „Einheitsfront“.

Im Sommer 1933 emigrierte Peters Familie nach Frankreich, wohin schon andere Familienmitglieder geflüchtet waren und Peter kam einige Zeit später nach. Dort wurde er von Roman Rubinstein in die Gruppe der emigrierten Jungkommunisten eingeführt. Dort lernte er auch seine spätere Frau Ettie kennen.

Ettie Gingold:

Ettie Gingold wurde 1913 in Czernowitz, Österreich-Ungarn, geboren. Ihre Familie war jüdischen Glaubens. Sie besuchte das Gymnasium in Czernowitz und ging mit 21 Jahren zum Studium nach Paris. Ab 1935 nimmt sie an Zusammenkünften von emigrierten Jugendlichen aus Deutschland und Österreich teil, wo sie auch Peter Gingold kennenlernt.

Ettie und Peter Gingold:

Ettie und Peter Gingold engagierten sich fortan gemeinsam in der emigrierten deutschen Jugendbewegung in Frankreich. 1936 wollten beide die spanische Republik unterstützen, verschiedene Umstände führten aber dazu, dass sie in Frankreich blieben. Als die Wehrmacht 1940 den Krieg an die Westfront brachte, wurde Peter zunächst interniert wie alle emigrierten Deutschen. Ettie brachte in Paris ihre erste Tochter Alice zur Welt und blieb dort, als die Stadt von der Wehrmacht besetzt wurde. Als Peter nach Paris zurückkehren konnte, brachten sie sich bei der Resistance ein. Ab 1941 mussten sie im Untergrund leben. 1942 wurde Peter von der Gestapo verhaftet, konnte sein Leben aber mit einer abenteuerlichen Flucht retten.

1944 erlebte Peter den Aufstand von Paris und die Befreiung durch die Amerikaner. Zum Kriegsende am 8. Mai 1945 war Peter in Turin, um die dortige Resistenza zu unterstützen.

Als der Krieg vorüber war, begannen die beiden eine neue Existenz im zerstörten Frankfurt a. M. 1946 kam dort ihre zweite Tochter Sylvia zur Welt. 1947 haben sie die VVN mitbegründet. Beide waren hauptamtlich für die KPD beschäftigt und kämpften für deren Erhalt, bis die Partei 1956, allen Mühen zum Trotz, verboten wurde. Etwa zur selben Zeit wurden ihre Pässe eingezogen aufgrund der polnischen Abstammung und die ganze Familie blieb bis zum Anfang der 70er Jahre „staatenlos“. Erst nach einem sehr langen Verfahren bekamen sie die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt. Die Gingolds haben sich Anfang der 80er-Jahre ebenfalls beim „Krefelder Apell“ engagiert, der sich gegen den NATO-Doppelbeschluss wandte. Ab 1997 war Peter Bundessprecher der VVN-BdA. Ettie Gingoldt starb im Jahr 2001, Peter folgte ihr im Jahr 2006.

Sylvia Gingold:

Wegen der fehlenden Staatsbürgerschaft und ihrer Mitgliedschaft in der DKP wurde die jüngere Tochter Sylvia Gingold mit Berufsverbot belegt und zunächst als Lehrerin fristlos entlassen. Das oberste Verwaltungsgericht in Kassel begründete das Berufsverbot so: „Wenn ihr auch nichts Verfassungsfeindliches vorgeworfen werden kann, aber in der Prognose wegen ihrer Mitgliedschaft in der DKP würde sie sich verfassungsfeindlich betätigen“.  Erst nach langem Kampf und Einmischung von außen (Francois Mitterand; Staatspräsident von Frankreich 1981-1995) wurde ihr Berufsverbot 1976 aufgehoben, Sylvia wurde angestellt, nicht verbeamtet. Heute engagiert sich Sylvia unter anderem ganz in der Tradition ihrer Eltern, indem sie aus ihrem und dem Leben ihrer Eltern berichtet und aufklärt.

Die Geschichte der Verfolgung der Familie Gingold über drei Generationen hinweg ist wahrlich erhellend, was „(…) die Kontinuität in der deutschen Geschichte“ angeht. Zuerst die antisemitische Verfolgung von Moritz und Esther Gingold, dann die antisemitische und antikommunistische Verfolgung von Peter und Ettie Gingold und schließlich die „nur“ noch antikommunistische Verfolgung von Sylvia Gingold. Der Optimismus und das Durchhaltevermögen der ganzen Familie sind bewundernswert. Sie hat einen hohen Preis dafür bezahlt, denn zwei Geschwister von Peter wurden in Ausschwitz ermordet. Auch die Schikanen als Juden und Kommunisten (und Staatenlose) waren mit Sicherheit schwer zu ertragen. Dennoch wurde ihr Kampfgeist bis zum heutigen Tag, nicht gebrochen. Daraus ziehe ich als Nachgeborener (Jahrgang 1986) und noch junges Mitglied der VVN (seit 2023) große Inspiration.

Vieles an dieser Familiengeschichte hat mich fasziniert; nicht alle Gedanken kann ich hier niederschreiben.

Besonders gefesselt hat mich die Überzeugung, mit der Peter davon schreibt, dass die Einheitsfront aus Kommunisten und Sozialdemokraten Hitler verhindert hätten. Würde das heute auch zutreffen, wenn Faschisten versuchen, nach der Macht zu greifen? Die Gräben, die die Gesamtheit aller Antifaschistinnen voneinander trennen, sind tief. Können wir sie zuschütten?

Letztes Jahr war ich auf dem Bundeskongress in Halle, der turbulent verlaufen ist. In meiner Wahrnehmung sind hier die verschiedenen Traditionslinien der VVN-BdA auf eine Art und Weise aufeinandergeprallt, die ich kritisieren möchte. Es wurde nicht, wie beim antifaschistischen Grundkonsens angestrebt, versucht, die Einheit aller Antifaschistinnen herzustellen. Stattdessen habe ich die Stimmung eher so wahrgenommen, als ob sich (mindestens) zwei feindliche Lager unversöhnlich gegenüberstehen. Nimmt man die These der Einheitsfront, von der Peter ein Anhänger war, ernst, so kommt uns als VVN eine besondere Rolle zu, die Voraussetzungen zu schaffen, dass eine Einheitsfront möglich werden kann. Denn schaffen wir es, eine solche Einheitsfront „im Kleinen“, also innerhalb unsere Vereinigung, herzustellen, könnten wir als Blaupause dienen, diese auch in einem größeren Maßstab zu verwirklichen, wenn es nötig wird.

Als Antifaschistinnen sind wir gegen das Gleiche, aber wofür wir sind, kann ganz unterschiedlich sein. Das ist für mich manchmal schwierig zu akzeptieren und gleichzeitig sehe ich in unserer Überparteilichkeit eine große Stärke. Wir sollten uns in Hinblick auf den anstehenden Bundeskongress zu Herzen nehmen, konstruktiv miteinander zu arbeiten, um mehr Einigkeit innerhalb der Vereinigung zu bekommen. Weniger Streit um einzelne Formulierungen, mehr Gegenvorschläge, um die Kompromissfindung einfacher zu gestalten, dass wünsche ich mir.

Auch die Vorbehalte gegen Kommunisten sollten nicht handlungsweisend werden. Was ist der Grund des Misstrauens ihnen gegenüber?

„Die Kommunisten waren in der Résistance die zuverlässigsten Kameraden“ sagte Alfred Grosser, ein Freund Peters, der sich dafür eingesetzt hatte, dass Sylvia als Lehrerin wiederangestellt wurde. Große Teile des Widerstandes gegen den Faschismus wurde von Kommunisten getragen. „Nach bisherigen Forschungen kam der Widerstand zu 78 % aus den Reihen der Kommunisten, 17% waren Sozialdemokraten, der Rest kam aus bürgerlichen Kreisen.“

Niemand kann wissen, ob die Einheitsfront von Kommunisten und Sozialdemokraten „1933“ tatsächlich verhindert hätte, aber einen Versuch wäre es wert gewesen.