Die letzten Seiten…
10. Juni 2025
„Ach, ihr Nachgeborenen,
die ihr auftauchen werdet aus der Flut
in der wir untergegangen sind
gedenkt, wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
auch der finsteren Zeit, der ihr entronnen seid.“
Wie furchtbar der Gedanke, dass es sein könnte, dass ihr nicht entrinnen werdet.
Wie groß war meine Hoffnung, dass ihr, die Nachgeborenen, den „finsteren Zeiten“, den Zeiten der Kriege und des Hungers, der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, entronnen sein werdet. Wie kurzzeitig und einfach habe ich mir das vorgestellt.
„Gingen wir doch…
…verzweifelt
wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir doch:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach wir,
die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Dass der Mensch dem Menschen Helfer ist
Gedenkt unserer
Mit Nachsicht“
Bevor es so weit sein kann, wird weiterer, schwererer Kampf erforderlich werden, darin bin ich mit Bert Brecht einig. Denn in dieser kapitalistischen Gesellschaft wird der Profit über den Menschen gestellt bleiben und die Aktienkurse mehr zählen als Menschenleben.
Das zu ändern, war das Streben meines Lebens.
Meine Worte sind zu schwach, meine Sprache ist zu arm, meine Gedanken sind zu unscharf, um meine Überzeugung nachvollziehbar ausdrücken zu können.
Ich habe deshalb oft die Worte, die Gedichte, die Lieder bedeutender Geister, vor allem Bert Brechts, für mich sprechen lassen.
Er soll noch einmal zu Wort kommen:
„Ach Freunde,
die ihr gesichert seid.
Warum so feindlich?
Sind wir eure Feinde, die wir Feinde des Unrechts sind?
Wenn die Kämpfer gegen das Unrecht besiegt sind
Hat das Unrecht doch nicht Recht!!
Unsere Niederlagen nämlich
Beweisen nichts, als dass wir zu wenige sind
Die gegen die Gemeinheit kämpfen.“
Und ich füge hinzu: Dabei schmerzt es schrecklich, dass wir welche für die Unsrigen hielten, die ebenfalls Gemeinheiten zugefügt haben.
Der Verlauf der Geschichte der Menschheit tröstet mich:
Die Sklaven haben gekämpft und gelitten, sie haben Fehler gemacht,
aber die Sklaverei wurde abgeschafft.
Die Bauern standen auf gegen ihre Unterdrücker, sie setzten Kloster und Burgen in Brand, sie schlugen los, getrennt und ohne Absprache, zogen geschlagen nach Haus. Es gibt bei uns keine Leibeigenschaft mehr.
Das Volk in Frankreich erstürmte die Bastille, es legte die Köpfe der Despoten unter die Guillotine, aber ihre Revolution wurde zur Wiege der Demokratie.
Einst werden den Traum von einer besseren Welt,
den ich mit vielen geträumt hab‘,
Andere handelnd verwirklichen.
Auch sie werden von Fehlern nicht gefeit sein.
Aber ich hoffe, dass sie aus den in meiner Zeit gemachten Fehlern
Gelernt haben werden.
„Hat es sich gelohnt?“ ist die Frage, die sich jeder Mensch im Leben stellen sollte. Ich habe sie mir bei meinem Engagement nie rein rechnerisch gestellt. Die einzelnen Rechnungsposten werden erst am Schluss zusammengezählt. Aber wann ist dieser Schluss? Ich meine, die Rechnung ist erst dann aufzumachen, wenn wenigstens ein Teil dieser Ideale, für die ich gekämpft habe, verwirklicht sind: Eine gerechte, friedliche Welt. Zur Endsumme zählen dabei nicht nur meine Bemühungen, das Ergebnis setzt sich aus der Summe vieler einzelner Aktionen und Menschen zusammen.
Ich weiß für mich, es hat sich gelohnt, denn ich habe keine Alternative. Die Erkenntnis „Sozialismus oder Barbarei!“ teile ich mit Rosa Luxemburg. Und deshalb handelte ich in der Überzeugung, dass ohne das vernunftgemäße Eingreifen der Menschen nur die Barbarei übrig bleiben wird.
Um mich herum verlassen Weggefährten diese Welt. Meine jüngeren Schwestern reden vom „Sterben“. O ja – „memento mori“ bedenke, dass du stirbst. Ich weiß, dass irgendwann mein Ich nicht mehr sein wird. Aber ich, die ich den 74. Geburtstag hinter mir habe, kann nicht aufhören, das Weltgeschehen zu beobachten, Anteil zu nehmen, mich aufzuregen und einzumischen.
Es tut gut, das Wichtige, das unsere Erde umtreibt und meine alltäglichen Erlebnisse festzuhalten. Dadurch wird mir deutlich, wie sehr ich als Subjekt von den objektiven Ereignissen berührt bin und dennoch das Geschehen außerhalb meiner kleinen Welt, die ferne Not, der ferne Tod, es nicht vermögen, meine kleinlichen Sorgen vergessen zu machen und – schlimm oder tröstlich? – Freude und Glück zu empfinden.
So lange dies so bleibt, will ich die Ereignisse, meine Handlungen und Gedanken notieren, mir selbst zur Erinnerung und Kontrolle. Ich führe „Tagebuch“, sporadisch, emotional.
Es soll mir dabei helfen und ich finde es spannend und beruhigend zugleich.
Beruhigend, weil ich dadurch ein Mittel habe, mich abzureagieren, spannend, weil ich wissen möchte, wie lange mir das noch möglich ist.
Heidi Hummler starb am 23. Januar 2025 im Alter von 91 Jahren. Ihr „er-Lebens-ver-Lauf“ erschien 2009 unter Verlag der Druckwerkstatt Renchen. Bis zu ihrem Tod blieb sie Mitglied unserer Vereinigung. In unserer Erinnerung behält sie ihren Platz.