„Nie wieder“ darf keine Phrase sein
10. Juni 2025
AN25-2, Geschichte, Mercedes-Benz
Der Stuttgarter Konzern Mercedes-Benz und die Rechtsentwicklung in Deutschland:
wo stehen wir 80 Jahre nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus?
In den Jahren 1933 bis 1945…
entwickelte sich die Daimler-Benz AG zum größten Rüstungskonzern des „Dritten Reichs“. Nach Zerschlagung der organisierten Arbeitenden-Bewegung – zuerst das KPD-Verbot am 23. März 1933, wenig später das Verbot der SPD und schließlich der Sturm von SA und SS auf die Gewerkschaftshäuser am 2. Mai 1933 – wurde mit Hilfe der faschistischen Betriebsorganisation und dem Verbot von Lohnkämpfen und Streiks die Ausbeutung in den Betrieben auf die Spitze getrieben. Zuschläge für Überstunden, Nachtschichten oder Sonn- und Feiertagsarbeit wurden nach und nach abgeschafft und die Arbeitszeiten stufenweise verlängert. Im September 1940 wurde im Werk Untertürkheim schließlich die 60-Stunden-Woche eingeführt. Über die Hälfte von den insgesamt 92.297 Daimler Beschäftigten, nämlich 46.349, waren 1944 Zwangsarbeitende, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Im Krieg war Stuttgart mit Zwangsarbeitslagern übersät, speziell rund um das Daimler-Werk in Untertürkheim. In Zusammenarbeit von Gestapo, Werkschutz und Firmenleitung wurde eine grausame Arbeitsdisziplin durchgesetzt. Diese Maßnahmen trugen mit dazu bei, dass der Konzernumsatz von 65 Millionen Reichsmark im Jahr 1932 auf 942 Millionen Reichsmark im Jahr 1943 wuchs.
Und heute?
Bei Mercedes-Benz konnte mit der Betriebsgruppe „Zentrum Automobil“ eine mit Neonazis vernetzte Strömung entstehen, die bei der Betriebsratswahl 2022 15,8% der Stimmen und sieben von 45 Sitzen im Betriebsrat erreicht hat. Diese Gruppe wird im Flyer „Solidarität statt Spaltung“ von Vertrauensleuten der IG Metall in den Mercedes-Benz Werken wie folgt beschrieben: „Viele Zentrumsmitglieder sind aktiv in faschistischen Organisationen. Die Anführer von Zentrum kommen aus der militanten Neonazi-Szene und dem Umfeld von Rechtsterroristen (z.B. NSU). Die Gruppe ist eingebunden in ein Netz rund um das rechte Kampagnenprojekt „Ein Prozent“, die Identitäre Bewegung und den rechtsnationalen „Flügel“ der AfD um Björn Höcke, den man – gerichtlich bestätigt – einen Faschisten nennen kann“.
Für die längerfristig angestrebte Machtübernahme in Deutschland misst Höcke dem „Zentrum Automobil“ eine hohe Bedeutung zu – zum Aufbau einer AfD-Massenbasis in den Betrieben: „Ich sage ja zum Zentrum Automobil, wir brauchen dieses Vorfeld. Ohne dieses Vorfeld sind wir nichts und werden wir nicht durchbrechen“ (Phoenix-Doku., 30.09.2024).
Gefährliche ökonomische Machtkonzentration
Die Geschichte lehrt uns, Faschismus kommt nicht über Nacht. Die Errichtung der Diktatur vollzog sich in den 1930er Jahren in einem schleichenden Prozess der Rechtsentwicklung, nicht nur in der Politik, sondern auch in den Konzernzentralen. Bislang positionieren sich Mercedes-Benz und die meisten Unternehmen in Deutschland für Vielfalt und gegen Rassismus. Die Entwicklung in den USA zeigt aber, dass viele Konzernzentralen demokratische Werte schnell aufgeben, sobald sich die Rahmenbedingungen ändern. Ökonomische lässt sich von politischer Machtkonzentration kaum trennen. So wies der ehemalige US-Präsident Biden auf „eine gefährliche Machtkonzentration in den Händen einiger weniger extrem reicher Leute“ hin, die „buchstäblich (…) Grundrechte und Freiheiten (…) bedroht“. Beim Wahlkampf von Trump spielten Desinformationskampagnen in den sozialen Netzwerken keine unerhebliche Rolle; dabei engagierte sich der gewerkschaftsfeindliche Hightech-Milliardär und AfD-Unterstützer Musk mit mehr als 270 Millionen Dollar. Nach seiner Machtübernahme beseitigte Trump Programme und Stellen für Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion. Wichtige US-Firmen passten sich diesem Trend ganz oder teilweise an – etwa Amazon, Meta (inklusiv Facebook, Instagram und Whatsapp), Ford, Disney, GM, Intel, PayPal, Pepsi, Philip Morris oder Google. Letzteres Unternehmen entfernte den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar sowie den Women’s History Month, den Black History Month und den LGBTQ Pride Month von der Standardanzeige seines weltweit genutzten Google-Kalenders.
Unterschiedlicher Umgang mit NS-Opfern und NS-Tätern
Diese problematische Haltung zu demokratischen Werten zeigt sich bei Mercedes-Benz nicht nur bei der Zusammenarbeit mit Diktaturen wie dem ehemaligen Apartheidregime in Südafrika. Aktuell ist dies auch beim geplanten Abbau von etwa 20.000 Arbeitsplätzen in Deutschland und deren teilweise Verlagerung nach Ungarn, das maßgeblich durch die gewerkschaftsfeindliche Politik Orbáns geprägt wird. Sie zeigt sich insbesondere auch beim Umgang mit dem Mahnmal „Tag und Nacht“. Dieses haben wirbei der von der Initiative Hotel Silber organisierten Busfahrt zu Orten der Zwangsarbeit „Rund um Daimler“ im April 2024 besucht. Es ist empörend, wie versteckt es in der Nähe des Daimlermuseums platziert wurde. Immer wieder hatten Betriebszeitungen der IG Metall einen würdigen Platz eingefordert – schon die Mai-Ausgabe 2015 der „Scheibenwischer Zentrale“ anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung vom Hitlerfaschismus. Demgegenüber wird bis heute Wilhelm Raspel, der im August 1942 den Vorsitz des Konzernvorstandes übernommen hatte und mit dafür verantwortlich war, dass KZ-Insassen und Zwangsarbeitende in den Daimler-Werken auf brutalste Weise ausgebeutet wurden, nicht nur in Sindelfingen eine Wilhelm-Raspel-Straße gewidmet, sondern auch direkt auf dem Stuttgarter Werksgelände.
Was tun?
Den 80. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus wollen wir in diesem Jahr besonders feiern. Nüchtern müssen wir feststellen, dass die Gefahr einer schrittweisen Rechtsentwicklung hin zu einer neuen Diktatur noch nie so groß war wie heute. Das wirft viele Fragen auf, die es nicht nur am 8. Mai zu diskutieren und zu klären gilt:
- Wie konnte es soweit kommen?
- Wie können wir dafür sorgen, dass das Mahnmal für die Zwangsarbeitenden einen würdigen Platz erhält und die Wilhelm-Raspel-Straße nach Daimlerarbeitenden wie Gotthilf Schlotterbeck, die wegen ihrer antifaschistischen Haltung während der NS-Diktatur umgebracht wurden, umbenannt wird?
- Wie können wir als VVN am besten dazu beitragen, dass der Einfluss von neufaschistischen Kräften in Betrieb und Gesellschaft zurückgedrängt wird? Wie gelingt die nötige Bildung einer breitmöglichsten Anti-Höcke-Koalition, bevor Höcke die in seinem Buch „Nie zwei Mal durch denselben Fluss“ angekündigte „Reinigung Deutschlands“ realisiert, bei der wir „leider ein paar Volksteile verlieren werden, die (…) nicht willens sind“ mitzumachen und wir statt seiner mittlerweile weitgehend von ihm geprägten AfD verboten werden?
- Wie erreichen wir, dass der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom Faschismus, selbst endlich ein Feiertag wird, bei dem die breite Aufklärung der Jugend über die NS-Verbrechen im Mittelpunkt stehen?