Grußwort zum Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus in Reutlingen
26. November 2023
Gedenken, Kundgebung, Reutlingen, Tübingen
Liebe Mitgedenkende,
das Mahnmal auf diesem Friedhof erinnert uns auch an die Menschen, die Widerstand gegen den deutschen Faschismus geleistet haben, verfolgt und schließlich ermordet wurden. An einige wollen wir heute erinnern, ihre Geschichte verbindet auch die beiden Städte Reutlingen und Tübingen auf grausame Weise.
Viele Jahre, ja Jahrzehnte brauchte es, bis die Rolle der Tübinger Anatomie und deren tiefe Verstrickung in die Nazi-Verbrechen systematisch aufgearbeitet wurde. Die Toten aus der Anatomie wurden im Reutlinger Krematorium verbrannt. Ihre Asche wurde wieder zurück nach Tübingen gebracht und auf dem Gräberfeld X verscharrt. Universität und Stadt Reutingen hatten die Details dazu seit 1939 vertraglich geregelt. Unter diesen Toten waren auch hingerichtete Widerstandskämpfer. Erst seit 2020 gibt es das gemeinsame Forschungsprojekt von Stadt und Universität Tübingen zum Gräberfeld X. Und erst in diesem Jahr wurden diese Verbrechen in einer Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht.
Wir wissen ebenfalls, dass die Leichen von 99 Opfern aus dem KZ Hailfingen-Tailfingen hier in Reutlinger im Krematorium verbrannt und auf dem Friedhof bestattet wurden.
Wir gedenken der Mitglieder der Lechleiter-Widerstandsgruppe, deren Körper nach ihrem gewaltsamen Tod der Anatomie der Tübinger Universität zur Verfügung gestellt und hier in Reutlingen im Krematorium verbrannt wurden.
Die Lechleiter -Widerstandsgruppe war mit mehr als 60 Frauen und Männern die größte Gruppe in Süddeutschland, die über mehrere Jahre Arbeiter-Widerstand im Raum Mannheim organisierten. Benannt war sie nach Georg Lechleiter, dem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden der KPD im Badischen Landtag. Seit dem Frühjahr 1935 baute er zusammen mit dem Gewerkschafter Jakob Faulhaber, der KPD Gemeinderätin Henriette Wagner, den SPD-Mitgliedern Käthe Seitz und Alfred Seitz und vielen anderen illegale Betriebsgruppen in fast allen Mannheimer Großbetrieben auf. Sie führten politische Beratungen durch, verteilten illegale Zeitungen, organisierten Streiks und sammelten Spenden für politische Gefangene. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion gaben sie ein „Informations- und Kampforgan gegen den Hitlerfaschismus“ – „Der Vorbote“ heraus, in dem sie über die Lügen der Nazi-Kriegspropaganda aufklärten; Informationsquellen waren abgehörte ausländische Radiosender. 1941 und 1942 verteilten sie unter größten Schwierigkeiten 4 Ausgaben der Zeitung mit jeweils bis zu 14 Seiten und 200 Exemplaren in den Mannheimer Großbetrieben.
Durch Denunziation und mit Hilfe eines eingeschleusten Spitzels wurde die Gruppe verraten. 60 Menschen wurden verhaftet und mussten grausame Folter erleiden, 3 von ihnen starben daran. Gegen 32 Menschen wurde ein Schauprozess eröffnet. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Zersetzung der Wehrkraft wurden 19 von ihnen zum Tode verurteilt, alle anderen zu hohen Zuchthausstrafen. Die zum Tode Verurteilten wurden in Stuttgart hingerichtet und ihre Leichen anschließend in der Heidelberger und Tübinger Anatomie geschändet. 3 von ihnen – Daniel Seizinger, Rudolf Langendorf und Eugen Sigrist – wurden nach der Einäscherung im Reutlinger Krematorium auf dem Gräberfeld X in Tübingen verscharrt. 11 weitere kamen nach Heidelberg in die Anatomie. Auf dem Bergfriedhof dort ist ihre letzte Ruhestätte.
An ihnen wollten die Nazis ein Exempel statuieren und öffentlich vorführen, dass jeder Widerstand erbarmungslos verfolgt wurde. Sie fürchteten insbesondere den Arbeiter-und den antimilitaristischen Widerstand und drohten in der Urteilsbegründung allen tatsächlichen und potentiellen Gegnern:
„Das deutsche Volk, vor allem aber der seine besten Kräfte verkörpernde Frontsoldat, verlangen, dass die Heimat geschlossen hinter ihnen steht, dass jede Zersetzung, jede Lähmung des Siegeswillens… und jede Schwächung der Wehrkraft mit der größten Härte geahndet werden… Deshalb muss jeder, der sich zu derartigem Tun hergibt, für alle Zeiten unschädlich gemacht werden.“
Wenn wir an die Frauen und Männer des Widerstands erinnern, die im Kampf gegen den Faschismus ihr Leben riskierten und verloren, verbieten sich einfache Parallelen zu heute. Jede Gleichsetzung mit der heutigen Situation kommt einer Verharmlosung des Nazi-Terrors gleich. Aber wir können stolz auf sie sein und stehen in ihrer Pflicht, die Lehren aus der Geschichte des antifaschistischen Kampfes weiter zu tragen. Und gerade deshalb gilt es auch heute, nicht zu schweigen und Widerstand zu leisten gegen AfD, alte und neue Nazis. Nicht zu schweigen, gegen alle Versuche, die Geschichte umzuschreiben – so wie die Tübinger Stadtverwaltung der Clara-Zetkin-Straße einen Knoten verpassen wollte, was durch breiten Widerstand aus der Bevölkerung verhindert werden konnte. Zu widersprechen, wenn Politiker nur noch von „importiertem“ Antisemitismus reden, aber Antifaschistinnen kriminalisieren.
Wenn wir heute der antifaschistischen Widerstandskämpferinnen und –kämpfer der Gruppe Lechleiter gedenken erinnern wir auch an ihr Vermächtnis:
„Das Wissen um die Notwendigkeit des eigenen Handelns und des eigenen Widerstands auch und gerade dann, wenn man keine mächtige Bewegung hinter sich weiß, wenn die meisten Menschen apathisch, resigniert oder zustimmend den Lauf der gesellschaftlichen Entwicklung hinnehmen“.
Trotz alledem – Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!
Gisela Kehrer-Bleicher, VVN-BdA Kreisvereinigung Tübingen-Mössingen
Die VVN-BdA Heidelberg hat die Geschichte der Lechleiter-Widerstandsgruppe in einer Veröffentlichung bekannt gemacht: „Mannheim geheim – Der Fall Vorbote“, Heidelberg 2005