Jeder Mensch hat einen Namen
9. Februar 2024
Alfred Hausser Preis, AN24-1, Gedenken
Foto: Wolfgang Schmidt
Im November 1944 kamen 600 jüdische KZ-Häftlinge am Bahnhof in Nebringen bei Böblingen an. Sie kamen von dem Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, ihr Leidensweg war allerdings sehr viel länger. 540 von ihnen waren zuvor in Auschwitz, andere kamen aus dem Baltikum.
Ihr Ziel in Tailfingen war ein Militärflugplatz, für dessen Errichtung und Ausbau sie Zwangsarbeit leisten mussten. Dort schufteten sie täglich bei Minusgraden in verschiedenen Steinbrüchen, sie fällten Bäume, sie bauten die Start- und Landebahn und deren Zufahrtsstraßen aus. Die Häftlinge schliefen in einem Flugzeughangar auf Stroh voller Läuse. Der Überlebende Mordechai Ciechanower beschrieb das so: „Wir Häftlinge bekamen nichts zu essen und die Läuse haben uns gegessen“.
Neben körperlich harter Arbeit und einer katastrophalen Versorgung erlebten die Häftlinge auch Gewalt, die nicht selten zum Tod führte: Bis zur Schließung des Lagers im Februar 1945 kamen nachweislich 189 Menschen im KZHailfingen-Tailfingen ums Leben; die überlebenden Häftlinge wurden nach Bergen-Belsen, Dautmergen und nach Vaihingen/Enz gebracht.
Die letzten 75 Toten des Lagers Hailfingen-Tailfingen konnten nicht mehr wie die vorherigen Verstorbenen in nahegelegenen Krematorien verbrannt werden, sondern wurden in einem Massengrab nahe der Landebahn verscharrt. Nach dem Ende des Krieges machten zwei Überlebende die französische Besatzungsverwaltung auf das Grab aufmerksam, woraufhin die Tailfinger Männer von den Franzosen aus ihren Häusern geholt und zum Massengrab gebracht wurden, um dieses zu öffnen. Währenddessen gruben die Tailfinger Frauen auf dem örtlichen Friedhof ein neues Grab.
Am Folgetag wurden weitere Anwohner geholt um ihnen zu zeigen: Das ist der Ort des Verbrechens! Bei der Ausgrabung der Verstorbenen am 1. Juni 1945 kam es zu gewaltsamen Übergriffen gegen einige Dorfbewohner, an deren Folgen zwei Männer starben.
Am 03. Juni 1945 wurden 75 Opfer des ehemaligen Konzentrationsaußenlagers auf dem Friedhof in Tailfingen beigesetzt, wo sie bis heute ihre letzte Ruhestätte gefunden haben und einen Gedenkstein, mit allen 75 Namen an sie erinnert. Jahrzehntelang wurde in der Gäuregion über die Existenz des Lagers geschwiegen. 37 Jahre hat es gedauert, bis eine Veranstaltung anlässlich des Antikriegstages an die Opfer erinnerte und das Lager wieder thematisierte. Lokal gab es massive Widerstände gegen ein intensiveres Erinnern, zu tief waren die Wunden der ersten Junitage des Jahres 1945. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Bemühungen um ein lokales Gedenken, insbesondere die Recherchen über das Lager und vor allen Dingen seiner jüdischen Häftlinge immer weiter vorangetrieben. So konnte beispielsweise durch Harald Roth eine Kopie des Natzweiler Nummernbuchs in einem Archiv in Ludwigsburg gefunden werden, darin enthalten sind alle Namen der 600 jüdischen KZ-Häftlinge. Es dauerte nicht lange, bis mithilfe der Gedenkstätte Yad Vashem der erste Kontakt zu einem Überlebenden in Israel hergestellt werden konnte. Mordechai Ciechanower gelang es, bei seinem Besuch in Deutschland die Widerstände zu brechen und letztlich den Weg zu einem zentralen Gedenken in der Tailfinger Ortsmitte zu ebnen. Seit dem Jahr 2010 erinnert im ehemaligen Rathaus in der Tailfinger Ortsmitte nun ein eigenes kleines Museum an das KZ Hailfingen-Tailfingen.
Am Anfang der ehemaligen Start- und Landebahn sind auf einem tonnenschweren Mahnmal aus Aluminium, dem Material der damaligen Flugzeuge, alle 600 Namen der jüdischen Häftlinge festgehalten, die hier Zwangsarbeit leisten mussten. Durch den dahinterliegenden Wald führt ein Weg, der heute die gesamte Landebahn dicht bedeckt. Hier finden sich verschiedene Kunstwerke von Schülerinnen und Schülern regionaler Schulen, die sich intensiv mit der Geschichte und speziell mit dem Lager Hailfingen-Tailfingen beschäftigten.
Auf dem Friedhof in Tailfingen haben die Angehörigen der Opfer die Möglichkeit, mit einem eigenen Grabstein an ihre Verwandten zu erinnern, was beispielsweise dem Überlebenden Sam Baron ermöglichte, ein lange offenstehendes Kapitel seines Lebens abzuschließen. Jahrzehntelang hat Sam Baron nicht gewusst, was mit dem Leichnam seines geliebten Vaters geschehen war, nachdem der Leichenberg eines Tages aus dem Lager verschwunden war und er lediglich in Erfahrung bringen konnte, dass dieser unweit der Landebahn begraben wurde.
60 Jahre später konnten Harald Roth und Volker Mall ihm mitteilen: Wir wissen wo Ihr Vater liegt. Die KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen ist zu einem Ort der Begegnung und des Austauschs geworden, der Angehörigen und Überlebenden die Möglichkeit zu trauern und uns die Gelegenheit zu lernen und sich zu erinnern gibt. Mordechai Ciechanower: „Das ist ein Testament von jenen Menschen, die diese Zeit nicht überlebt haben. Diese haben darum gebeten: Gedenkt uns, bitte vergesst uns nicht“.