Die Demagogie der AfD
19. April 2024
„Lüge wird zu Wahrheit, wenn jede:r daran glaubt.“ TORPEDO MOSKAU
Vor einigen Wochen sei Thüringens CDU-Chef Mario Voigt davon abgeraten worden, sich auf ein Streitgespräch mit AfD-Frontmann Björn Höcke einzulassen, bei dem er – öffentlichkeitswirksam inszeniert – zu punkten glaube: Höcke sei – so hieß es stante pede – ein „dreister, unverfrorener Demagoge“, der keine ihm gebotene Chance ungenutzt lasse, jedes Podium zu einem Multiplikator für das Verbreiten seiner Naziparolen werden zu lassen.
Aber was heißt dies nun: ein „Demagoge“ zu sein bzw. einer „demagogischen“ Partei anzugehören?
Während wir bspw. bei Begriffen wie „Verfassungsschutz“ von Euphemismen sprechen, weil unangenehme Wörter (hier: Inlandsgeheimdienst) beschönigend, verhüllend, mildernd umschrieben werden, stellt der Terminus „Demagogie“ einen Dysphemismus dar, weil er ursprünglich positiv konnotiert war und wertschätzend auf „angesehene Redner:innen“ angewandt wurde, die der jeweiligen Bevölkerung beim Treffen weit reichender politischer Entscheidungen argumentativ „zur Seite“ ständen. Dann kam er aber – letztendlich nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 – nur noch im abwertenden Sinne zum Einsatz: für ideologische Hetzer:innen jedweder Couleur.
Wenn wir diese Definition in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen, dann bleiben die „Ideologie“ und die „Hetze“ übrig.
Zunächst zur Ideologie: Sie sollte im Diskurs zwingend marxistisch oder wissenssoziologisch aufgeschlüsselt werden. Marxistisch betrachtet ist sie erst einmal das „falsche Bewusstsein“ einer Gesellschaft, die von den Interessen der darin jeweils dominierenden, ihre Führungsposition rechtfertigenden und autoritär verteidigenden Gruppe so stark beeinflusst wird, dass das darüber erzeugte herrschende Selbstbild hegemonial bzw. machtstabilisierend wird und zu bleiben hat, obwohl es objektiv betrachtet nicht das richtige, wahre, klassenkämpferische ist. In Lukácsʼ Weiterentwicklung wurde diese Theorie der Ideologie mit jener des Totalitarismus verknotet: Sollten Individuen durch gesellschaftlich oder staatlich organisierte Aktivitäten und Strukturen vollständig vereinnahmt werden, dann können sie sich ausschließlich innerhalb dieser Totalität verstehen/verorten und entwickeln aus sich heraus eine adäquate, praktisch kritikunfähige Ideologie. Das Entwerfen eines korrekten und vollständigen Bildes der von ihnen „belebten“, „bevölkerten“ Gesellschaft ist in diesem Rahmen dann nicht mehr möglich; alles und jede:r verharrt – quasi selbstreferenziell – in Totalität.
Wissenssoziologisch betrachtet können wir es bei einer Ideologie auch mit den „ausformulierten Leitbildern“ bzw. Ideensystemen von Parteien wie der AfD zu tun haben, die ihr Agieren nach innen und außen kategorisch begründen und rechtfertigen und dabei eine spezifische, dichotomische, per se postfaktische Vorstellung von Gesellschaft entwerfen: auf der einen Seite steht die Gruppe der „Wir“; auf der anderen Seite stehen „die anderen“. Diese empirisch nicht operationalisierbaren Konstrukte haben für die Erfinder:innen derselben den diskursiven Vorteil, dass „wir“ – die vermeintlich homogene Gruppe der „Deutschen“ – immer und ausschließlich als wahr gelten und moralisch gut sind. Aus diesem Grunde kann auch die äußerst lange Geschichte dieser „Deutschen“ nicht „schlecht“ sein; und wenn doch, dann sind „Hitler und die Nazis [eben] nur ein [gerade mal zwölf Jahre währender] Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ (Alexander Gauland). NS-Verharmlosung in Reinform!
Und nun zur Hetze: Das sind unsachliche, verleumderische, verunglimpfende Äußerungen, mit denen bzw. durch die feindselige Stimmungen und Emotionen gegen andere Personen oder Gruppen erzeugt werden sollen. Hass soll hervorgerufen werden, Ängste sollen geschürt werden – immer gegen jene oder vor jenen konstruierten Bevölkerungsschichten oder Milieus oder Religionsgemeinschaften oder anders Markierten, die letztendlich ausgegrenzt bzw. entfernt („deportiert“) werden sollen.
Was benutzt nun die heutige AfD aus dem tiefbraunen Werkzeugkasten der ideologischen Hetze?
An ihr lässt sich zweifelsohne nachweisen, dass sie bspw. laut ver.di Mittelfranken „ihre eigene Sprache [nutzt], um die Gesellschaft an Hass und Hetze zu gewöhnen, diese salonfähig zu machen, und jeglichen Widerstand gegen ihre Politik zu diskreditieren. Der so geschaffene AfD-Sprech erzeugt Bilder, wertet Menschen oder Gruppen ab, pauschalisiert, erzeugt negative Gefühle, Vorbehalte und Hass. Es bleibt nicht bei Worten; Worte werden zu Taten. Das Zündeln mit Worten erzeugt gesellschaftliche Brände.“ [zitiert aus der DIN A6-Broschüre: „Wenn die AfD an die Macht käme …“]
Es reicht aus, sich – jeweils repräsentativ für ein von der AfD beackertes Politikfeld, eine bedeutende Konfliktlinie, ein prägendes Gesellschaftsthema, einen öffentlichen Disput – Formulierungen/Statements aus Wahlprogrammen der Partei „herauszupicken“ – und sie konkret als das zu entlarven, was sie im Kern immer sind: Lügen, Fakes, Verblendungen.
Fangen wir mit dem Kapitalismus an:
Der Schwur von Buchenwald hat unmissverständlich darauf hingewiesen, dass erst „die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln“ den Aufbau einer „neuen Welt des Friedens und der Freiheit“ ermöglichen bzw. zulassen würde; dass also hinter dem Faschismus an der Macht das Kapital stehe. Die BRD, innerhalb dessen rechtsstaatlichem Rahmen die AfD als Partei zu allen Wahlen antritt, ist heute noch ein bürgerlich-kapitalistisches System, großmachtambitioniert eingebunden in das zurzeit gigantischste Militärbündnis der Welt, die NATO. Außerdem ist sie tonangebend in der EU, einer weiteren bedeutenden globalen, hochgerüsteten Akteurin. Das sind Fakten, die nicht einmal die CDU in Frage stellen würde. Die AfD aber schon: Ein „sozialer Frieden“ ist ihr wichtiger als alles andere; deshalb existiert für sie die Konfliktlinie „Kapital – Arbeit“ gleich gar nicht; für sie ist dies ein „vorsätzlich herbeigeführter Konflikt“. Und „sozialer Friede“ kann in diesem Kontext nur bedeuten, dass eine Gesellschaft ein bruchloses Homogenisierungslevel erreichen solle; frei von Klassenkampf, frei von der Möglichkeit, Arbeiter:innenrechte überhaupt erstreiten zu können.
Das heteronormative Familienbild:
Die AfD ist eine extrem antifeministische Kraft. Aber keine, die diese Ausrichtung wissenschaftlich fundiert zu untermauern versucht. In diesem Bereich arbeitet sie mit den billigsten Methoden: Sie faselt von einer „gesellschaftsdurchdringenden Gender-Ideologie“, davon, dass die 3-Kind-Familie „Sicherheit, Obhut, Heimat, Liebe und Glück“ sei und v.a. – als Leitbild – von einer „Einheit von Vater, Mutter und [drei] Kindern“. Frauen werden zu am Herd stehenden Gebärmaschinen fürs sichere, homogene, glückliche Volk der Deutschen; ihre Bäuche gehören nicht mehr ihnen selbst, sondern … Ja, wem eigentlich?! Nun, weil die AfD „Geburtenprämien“ in Form von Krediterlassen ausschütten will – für genau drei „rassisch reine“ Kinder pro arischer Familie die allerhöchsten – , würden sie wohl in die Verfügungsgewalt des AfD-Regimes überführt werden …
Menschen ohne deutschen Pass:
Beim Thema „Migration“ bzw. Einwanderungsgesellschaft vertritt die AfD die mit Abstand krassesten Positionen, nicht erst seit dem Geheimtreffen in Potsdam. Auch hier nur übelste Hetze: „unkontrollierte, unbeherrschbare Masseneinwanderung“; Inflation und Wohnraumverknappung und Erosion der sozialen Sicherheit durch Migration; der deutsche Pass soll ans „Abstammungsprinzip“ gebunden werden; „Vorrang für Einheimische“ usw. Die AfD weiß ganz genau, dass das „rein Deutsche“, das kulturell Identitäre, die „gesunden“ Abstammungsbäume in der Realität nicht existieren können und werden, sondern als Wunschprojektion konstruiert, sozusagen – in Abgrenzung zum vermeintlich Anderen, Bedrohlichen, Fremden – herbeigeredet werden müssen. Interessant ist, dass die AfD hierbei sogar von ihren anfänglich noch „marktradikalen“ Positionen abrückt, indem sie betont, dass „Einbürgerung … vorrangig deutschen Interessen dienen müsse“ – in einem je spezifischen Weltwirtschaftsgefüge mit Privateigentum an den Produktionsmitteln, mit marktwirtschaftlichen Implikationen, mit divergierender Akkumulation, mit Ausbeutung, Unterdrückung, Krise, Krieg eine geradezu irrsinnige Prämisse, bei der der Schlüsselbegriff im Endeffekt vollkommen hohl bleibt: Was genau sind deutsche Interessen?! Völkisch-nationalistische Propaganda!
Anders fähige Menschen:
Hier wird die AfD zur „Aktion T4“-Propagandistin. Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen sollen in keinem Falle in den Schulalltag integriert werden, weil dies den „Lernerfolg“ der „Nicht-Behinderten“ gefährde – und auch zu teuer sei. Außerdem seien „Behinderungen“ das „Ergebnis von Inzest“; die jeweiligen Eltern seien Schuld daran. Anders fähige Menschen will die AfD ghettoisieren. Und in diesen „Behinderten-Ghettos“ – in die keine Steuergelder flössen -, würden die dorthin Gebrachten dann verhungern.
So ließe sich diese ekelhAfDe „Hasswort“-Liste noch lange fortsetzen: ob beim Thema „Rente“, bei gewerkschaftlicher Organisierung, bei queeren Menschen – immer dasselbe demagogische Schema! Eigentlich leicht durchschaubar; aber mittlerweile muss konstatiert werden, dass die Hersteller:innen dieses extrem rechten Verblendungszusammenhangs mit ihrer „Verschiebung des Sagbaren“ so viel durchschlagenden Erfolg hatten, dass ihre Wähler:innen, Sympathisant:innen, Unterstützer:innen, Geldgeber:innen sie für eben jene inhaltlichen Surrogate gerne an den Schalthebeln staatlicher Macht sehen wollen: ob die mit Vehemenz vertretenen Standpunkte nun irgendetwas mit realen Verhältnissen zu tun haben – oder eben nicht! Und sollte die AfD ganz Staat werden, dann werden sowieso: „Lügen zu Wahrheiten“. Und daran müssen dann alle glauben …
Zum Schluss sei noch gesagt, dass Demagogie kein Alleinstellungsmerkmal der AfD ist; bei ihr ist sie nur am Ausgeprägtesten und Weitreichendsten und Heftigsten. Vor kurzem bezeichnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) den Unionsfraktionschef Friedrich Merz völlig zurecht als „gefährlichen Demagogen“; Merz hatte der Ampel „Wahlrechtsmanipulation“ vorgeworfen! Bereits einige Monate zuvor war Merz als ideologischer Hetzer aufgetreten: „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen“ – Mit „die“ waren ganz allgemein Migrant:innen gemeint. Nicht einmal die AfD hätte besser lügen können.