Bildungspolitik in Baden-Württemberg – ein Schritt vor, zwei Schritte zurück?
1. August 2024
Die Krise im baden-württembergischen Schulsystem ist eine seit Jahren andauernde. Der Lehrkräftemangel ist nichts Neues, knapp 6.000 Lehrkräftestellen jährlich waren in den vergangenen Jahren neu zu besetzen. Aber nur 3.500 bis 4.500 Stellen konnten mit voll ausgebildeten Lehrkräften belegt werden. Der Mangel an Bewerber*innen ist in erster Linie das Ergebnis der demographischen Entwicklung und wird sich in den kommenden 10 Jahren eher verschärfen. Auch durch kurzfristige Maßnahmen wie den Direkteinstieg wird dieses Problem nicht gelöst werden können. Die Erhöhung der Zahl der Studienplätze ist dringend notwendig, aber die Motivation für junge Menschen, auf Lehramt zu studieren, hat nicht zu-, sondern eher abgenommen.
Der Lehrer:innenmangel macht sich in allen Schularten bemerkbar, besonders aber in den Grundschulen. Um mit diesem Mangel umzugehen, gibt es für die Grundschulen wenig Möglichkeiten, da die Zusage, dass Grundschulkinder nicht nach Hause geschickt werden, verlässlich gewährleistet sein muss, vor allem bei Ganztagsschulen. Manchmal fallen jedoch Stunden aus, Klassen werden zusammengelegt, so dass dann 40 statt 20 Schüler:innen im Klassenzimmer sitzen oder in zwei verschiedenen Räumen von einer Lehrkraft betreut werden. Oder Schüler:innen werden mit Arbeitsmaterial versorgt, in kleine Gruppen aufgeteilt und in andere Klassen geschickt. Qualitativ guter Unterricht kann so nicht stattfinden, es ist eine Aufbewahrung mit Arbeitsaufträgen.
Im Bereich der Ganztagsschulen, vor allem bei Grundschulen, fehlt auch das pädagogische Personal. Das bedeutet, dass, wenn Erzieher:innen krank sind und ausfallen, die Betreuung der Kinder auf den Schultern des noch anwesenden Personals liegt, da es keine Vertretungsreserve gibt. Also kommen dann auch sehr schnell mehr als 25 Kinder zusammen, die zu betreuen oder beim Mittagessen zu beaufsichtigen sind.
Das bedeutet für alle Lehrer:innen und Erzieher:innen mehr Arbeit, mehr Belastung, oft eine Entgrenzung der Arbeitszeit. Die Folgen sind Erkrankungen bis zum Burn-Out oder die Frage, wie das System Schule verlassen werden kann. Als ehemalige Personalratsvorsitzende beim Staatlichen Schulamt Karlsruhe habe ich diese Frage nicht nur einmal gehört. Und dahinter stehen ernsthafte Kolleg:innen, die eigentlich für ihren Beruf brennen.
Ein erheblicher Anteil von Schülerinnen und Schülern erreicht die Mindeststandards nicht, wie die IQB Studie und die IGLU-Studie (Grundschule) gezeigt haben. Im Zehn-Jahres-Vergleich von 2013 bis 2023 belegt Baden-Württemberg den 16. Platz. Das heißt, das Land hat in diesen zehn Jahren am deutlichsten von allen Bundesländern verloren. Der Bildungserfolg und die Bildungschancen eines Kindes oder Jugendlichen hängen in unserem doch reichen Bundesland nach wie vor von der sozialen Stellung und dem Einkommen der Eltern ab. Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder aus Familien, in denen die Eltern keinen oder einen Hauptschulabschluss haben, gehen in der Regel nicht auf das Gymnasium und machen auch kein Abitur.
Baden-Württemberg steckt nach wie vor in einem dreigliedrigen Schulsystem, das die Schülerinnen und Schüler im Alter von zehn Jahren in die unterschiedlichen Schularten einsortiert. Dabei ist durch Länder-Studien belegt, dass Kinder, die nicht in diesem Alter getrennt werden und länger gemeinsam lernen, größere Bildungschancen haben.
Eine weitere Problematik, die zusätzlich auf den Schulen und Lehrkräften lastet, ist die Beschulung von geflüchteten Kindern. Reguläre Lehrkräfte, die bereits im Schuldienst arbeiten, stehen hier nur selten zur Verfügung. Daher werden durch Regierungspräsidien befristete Stellen ausgeschrieben, die, wenn die Bewerberlage gut ist, mit Lehrpersonen mit der Ausbildung „Deutsch als Fremdsprache“ besetzt werden können. Davon gibt es aber nun nicht mehr viele, so dass hier auch Lehrkräfte eingestellt werden, die keinerlei pädagogische Ausbildung haben. Und das läuft dann gut oder auch nicht. Die Arbeit mit geflüchteten Kindern bedarf einer sensiblen Unterstützung, damit sich das Gefühl des Angenommen-Seins entfalten kann, das die Grundlage für Lernen überhaupt ist. Jugendliche ab 16 Jahren werden in VABO (Vorbereitung Ausbildung/Beruf) Klassen, die an den beruflichen Schulen verortet sind, aufgenommen. Dort liegt der Schwerpunkt auf dem Erwerb von Deutschkenntnissen.
In seiner Regierungserklärung vom 8. Mai 2024 betonte Ministerpräsident Winfried Kretschmann, dass die infolge der unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder bestehende Bildungsungerechtigkeit Konzepte erfordere, die allen Kindern Chancen auf einen Bildungserfolg sichern. Er versprach, dies von Anfang durch die unterschiedlichen Sprachförderkonzepte von der Kita bis zu den Grundschulen in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus werden in der Sekundarstufe Schülerinnen und Schüler durch Programme in Mathematik und Deutsch gefördert. Ziel ist, den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik erreichen, deutlich zu erhöhen. Doch gerade hierfür werden viel mehr Ressourcen benötigt als eingeplant sind, vor allem Stunden für die Lehrkräfte. Verfügbare Unterrichtsstunden und Zeit für Kooperation und Differenzierung – Fehlanzeige. Das läuft größtenteils ohne besondere Stundenzuweisung, so dass sich Kolleginnen und Kollegen zusätzlich in diese Programme durch Fortbildungen einarbeiten und so Unterricht durchführen. Und wie diese dann tatsächlich ankommen, das kann noch nicht bewertet werden.
Statt endlich die Entkoppelung von Herkunft und Bildung anzugehen, statt endlich wirkliche Reformen in der Bildungslandschaft durchzuführen, hat die Landesregierung Reformen beschlossen, zum alten System zurückzukehren, unter der Maßgabe, dieses „neu“ zu gestalten. Eigentlich war von Seiten der Landesregierung vereinbart, das Thema Schulstruktur in dieser Legislatur nicht anzugehen. Doch ein von der Landesregierung einberufenes Bürgerforum hat nun bewirkt, dass die Landesregierung mit dem Schuljahr 25/26 die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium beschlossen hat. Dass dies nur mit einem großen finanziellen und personellen Aufwand zu bewältigen ist, liegt auf der Hand – und geht zu Lasten der anderen Sekundarstufenschulen, die nun bei Bedarf Verbundschulen oder nicht näher bestimmte Kooperationsmodelle werden sollen. Statt hier mutig zu sein und ein Zwei-Säulen-Modell einzuführen wie etwa in Hamburg, wird die Dreigliedrigkeit zementiert, damit die Exklusivität der Gymnasien erhalten bleibt. Dabei soll die Grundschulempfehlung für die Wahl der weitergehenden Schulart wieder verbindlich werden. So werden die Schülerinnen und Schüler der vierten Klassen in entsprechende Schultypen gezwungen.
Geplant war am 2.Mai ein Bildungsgipfel der vier Parteien des Landtages. Aber Interesse hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann an einem solchen Gipfel zu Schulstruktur nicht, und schon von vorneherein hatten die Regierungsparteien die Ergebnisse unter sich vereinbart, so dass SPD und FDP den Bildungsgipfel verließen.
„Der Schulfrieden fällt aus. Baden-Württembergs Schulpolitik bleibt Zankapfel unter den Parteien“, so beschreibt die Wochenzeitung Kontext (Ausgabe 648) diesen „ Bildungsgipfel“ Hier wurde die Chance vertan, für die nächsten Jahre und auch über die nächsten Landtagswahlen hinweg Rahmenbedingungen für eine gemeinsame, innovative Schulpolitik zu schaffen.
Die Forderungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: „Lehrkräftemangel, Investitionen in frühe Bildung und Grundschulen, ein guter Ganztag und ein zukunftsfähiges G9 geht mit der aktuellen Sparpolitik in Baden-Württemberg nicht. Die Schuldenbremse muss reformiert und der Fokus aller Reformen auf Maßnahmen gegen Bildungsungerechtigkeit liegen.“, so Monika Stein, die Landesvorsitzende der GEW.
Was wir zu befürchten haben, sind weitere drastische Kürzungen in der Bildungsfinanzierung, nicht nur in Baden-Württemberg. Das Geld wird in die Rüstungsfinanzierung und den Militärhaushalt gesteckt. Die Maßnahmen, die für die gute Bildung unserer Kinder und Jugendlichen notwendig sind, damit sie gebildete und demokratische Menschen unserer Gesellschaft werden, stehen dann auf dem Papier. Ob sie je in dem notwendigen Umfang finanziert werden, steht in den Sternen.