Grundbedürfnis Wohnen, das Elend mit der Wohnungsnot und das Versagen des Marktes

geschrieben von Prof. Dr. Günter Rausch

1. August 2024

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Foto: Werner Siebler

„Mensch kann nicht Nichtwohnen“ ist die unbestreitbare Tatsache, dass Menschen notwendig wohnen müssen. Wohnen ist eine Grundbedingung menschlicher Existenz. Ohne Wohnung, also Ob-dachlos zu sein, ist seit alters her neben Hunger und Durst die größte Angst und Sorge der Menschen, die von ihrer Hände Arbeit leben müssen. Mit der Herausbildung des Kapitalismus entstand im 19. Jahrhundert eine neue Form der Massenarmut, die sich auch in einer verheerenden Wohnungsnot äußerte. Friedrich Engels schrieb 1872(!) nach einer jahrelangen Analyse der „Lage der arbeitenden Klassen“: „Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden. Und diese Wohnungsnot macht nur soviel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat.“ (F. Engels, Die Wohnungsfrage, S. 213)

Das ist heute so aktuell wie damals. Wenn Engels z.B. registriert, „dass eine Gesellschaft nicht ohne Wohnungsnot bestehen kann, in der die große arbeitende Masse auf Arbeitslohn, also auf die zu ihrer Existenz und Fortpflanzung notwendige Summe von Lebensmitteln, ausschließlich angewiesen ist“ (S. 236), dann gehört dazu auch die bittere Erkenntnis, dass private Hausbesitzer aufgrund der kapitalistischen Logik danach streben müssten, aus ihrem Hauseigentum „rücksichtslos die höchsten Mietpreise herauszuschlagen“ (a.a.O.).

Dies wird etwa deutlich am Beispiel Freiburg, bekanntlich eine der Städte in Deutschland, in der Menschen anteilmäßig mit am meisten für die Miete ausgeben müssen: Laut Immoportal weist der aktuelle Mietspiegel hier „eine Durchschnittsmiete von 12,94 Euro pro Quadratmeter aus. In den beliebtesten Lagen werden Mietpreise von durchschnittlich 15,24 Euro pro Quadratmeter aufgerufen und in günstigen Lagen beträgt die Miete 10,91 Euro.“ Dabei handelt es sich allerdings nicht um die real zu zahlende Miete. Seit Jahren findet da eine Rosstäuscherei statt. Bei diesen so genannten Mietpreisen handelt es sich in Wirklichkeit um eine „Netto-Kalt-Miete“, die erfunden wurde, um von den tatsächlich zu zahlenden Mietpreisen abzulenken. Wichtige Elemente, die in jeder Miete enthalten sein müssen, bleiben dabei unberücksichtigt. Kein Mensch wohnt „netto-kalt“, vielmehr umfassen die Wohnkosten alle anfallenden Faktoren, wie Mietnebenkosten, Heizung, Wasser, Müll etc.. Expert:Innen sprechen da auch von einer „zweiten Miete“, die schnell dazu führt, dass aus 13 Euro pro Quadratmeter 16 bis 19 Euro werden, oder umgerechnet auf eine 80 qm-Wohnung rund 1.200 – 1.500 Euro im Monat. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um Durchschnittswerte.

Längst ist es in vielen Städten nicht mehr möglich, als Rentner:in, aber auch als Erzieher:in oder in der Pflege Beschäftigte:r mit einem Durchschnittseinkommen eine angemessene Wohnung zu finanzieren. Besonders hart trifft es Familien, die dann vermehrt ins Umland ausweichen, was aber nicht immer gut gelingt. Inzwischen sprechen Personalverantwortliche aus größeren Unternehmen davon, dass es angesichts der Wohnungslage immer schwieriger würde, Fachkräfte einzustellen.

Weiter am Beispiel Freiburg: Im aktuellen Wohnungsmarktbericht ist zu lesen, dass auf dem Mietmarkt eine immer größere Knappheit zu erwarten ist, „weil fast nicht gebaut wurde und weil der Markt für Kaufimmobilien zuletzt so abgekühlt war“. „Weitere Mietsteigerungen könnten bevorstehen“, so das Fazit. Dabei ist seit Jahren bekannt, dass hier 20.000 Mietwohnungen im unteren Preissegment fehlen – also für die Menschen, die nur über geringe Einkünfte verfügen. Die Notfalllisten umfassen rund 2.000 registrierte Menschen, die in akuter Wohnungsnot leben. Hinzu kommen nahezu ebenso viele Menschen, die in unterschiedlicher Weise wohnungslos sind, weil sie über keine eigene Wohnung verfügen können. An anderen Orten ist die Situation vergleichbar: Wer als Durchschnittsverdienende:r eine bezahlbare Mietwohnung sucht, wird schnell verzweifeln.

Kein Ende in Sicht? Tatsächlich konstatierte bereits 1927 der Münchner Wohnungsreferent Karl Sebastian Preis: „Die Wohnungsfrage ist die brennendste aller sozialen Fragen“. Dabei waren die 1920er Jahre zunächst von einer großen Bauwelle geprägt, insbesondere durch die Genossenschaftsbewegungen. Bis heute beispielhaft und vorbildlich hat die Stadt Wien zigtausende Wohnungen in den so genannten Gemeindebauten errichtet. Noch heute ist das „rote Wien“ in Europa die Stadt mit dem höchsten Anteil an Sozialwohnungen. Rund 500.000 Menschen leben unter den Dächern der „Wiener Wohnen“ und zahlen nur rund 6 Euro pro Quadratmeter.

Auch in Deutschland entstanden in jener Zeit in vielen Städten genossenschaftliche Siedlungen. In Freiburg etwa die Arbeitersiedlung Gartenstadt oder die Reihenhäuser in der Beurbarung, wo die 1899 gegründete Baugenossenschaft rund 93 Mietwohnungen errichtete. 1918 gründeten in Freiburg 35 Gesellschafter mit 300 000 Reichsmark Stammkapital die „städtische“ Siedlungsgesellschaft, die in mehreren Stadtteilen neue Wohnanlagen baute – und die auch in der Folge des Ersten Weltkriegs herrschende bittere Wohnungsnot spürbar linderte.

Diese Entwicklung gab es überall in Deutschland – und wurde überall durch die Wohnungspolitik der Nazis unterbrochen. Die Genossenschaften wurden gleichgeschaltet, der Mietwohnungsbau im großen Stil kam weitgehend zum Erliegen. Während in den sieben Jahren zwischen 1925 und 1932 in Berlin rund 170.000 Wohnungen neu errichtet wurden, entstanden in den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 etwa 102.000 neue Wohnungen. Viel zu wenig, um die Wohnungsnot zu beseitigen. Aber die Nazis setzten bekanntlich auf Eigentumsbildung und „Siedlungshäuser“. Im Gegensatz zur fortschrittlichen Bauhauskultur der Weimarer Republik, die geradezu programmatisch die Gleichheit im Sinne von gerechter Verteilung auch architektonisch zum Ausdruck brachte, wurde die ländliche Idylle, der rückwärtsgewandte Blick auf das eigene Häuschen im Grünen zur Leitidee. Da bereits 1935 rund 1,5 Millionen Wohnungen fehlten, gab es zwar Pläne für den Bau von Großwohnungsanlagen, aber die wurden nie umgesetzt. Alles musste der Kriegstüchtigkeit, also der Kriegsvorbereitung und Aufrüstung dienen.

Als das verkündete „tausendjährige Reich“ nach zwölf Jahren in Schutt und Asche lag, war die Wohnungsnot größer denn je. Die ganze Bundesrepublik stand vor gigantischen Herausforderungen, zumal sie neben dem Wiederaufbau zusätzlich rund 14 Millionen Flüchtlinge aus dem Osten wohnversorgen und integrieren musste. Gelungen ist dies insbesondere durch eine rigorose Zwangsbewirtschaftung, d.h. Zwangsbelegung von Wohnraum und durch eine Fortsetzung des vor dem Faschismus begonnenen sozialen Wohnungsbaus.

Was unter Kanzler Adenauer 1952 ins neue Wohnungsbauförderungsgesetz geschrieben wurde, wünscht man sich heute wieder: „Bund, Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände haben den Wohnungsbau unter besonderer Bevorzugung des Baues von Wohnungen, die nach Größe, Ausstattung und Miete oder Belastung für die breiten Schichten des Volkes bestimmt und geeignet sind (sozialer Wohnungsbau), als vordringliche Aufgabe zu fördern.“ Mit großen Programmen wurden in der alten Bundesrepublik bis zum Jahr 1974 jährlich zwischen 550.000 und 714.000 Wohnungen fertiggestellt (zum Vergleich: Im Jahre 2023 wurden in ganz Deutschland keine 300.000 Wohnungen neu gebaut).

Mit der Kanzlerära Helmut Kohl (1982 – 1998) wurde das Ende dieser Erfolgsgeschichte eingeläutet. Man ließ den Sozialen Wohnungsbau allmählich auslaufen. Hintergrund war die neoliberale Grundannahme, der Markt würde Wohnprobleme regeln, Angebot und Nachfrage würden passende Lösungen gerieren. Der Staat zog sich aus dieser sozialen Verantwortung zurück. Es wurden immer weniger Programme, mit immer geringeren Anreizen für den Bau von Sozialwohnungen aufgelegt. Gleichzeitig fielen Jahr für Jahr viele Wohnungen aus der Sozialbindung, es standen also immer weniger Sozialwohnungen zur Verfügung. Hinzu kam die fatale Entwicklung, dass zu Beginn des Milleniums Städte, aber auch der Bund und einzelne Länder, ganze Wohnungsbestände an private Investoren verkauften. Es entstand ein neuer Spekulationsmarkt („Betongold“) und 2006 ging mit der Gagfah, ein 1919 als gemeinnützig gegründetes Wohnungsunternehmen, als erstes deutsches Wohnungsunternehmen an die Börse. Wohnen wurde so zur Handelsware, Spekulationsobjekt an der Börse. Diese Gagfah wurde in der Folge mehrfach weiter verkauft und ist heute in das größte deutsche Wohnungskonglomerat „Vonovia“ eingeflossen. Vonovia verfügt über 550.000 Wohnungen und erzielt regelmäßig Jahresrenditen in Höhe von etwa 2 Milliarden Euro.

Wer hohe Renditen auszahlen muss, kann dies nur über Kostenreduktionen (zu Lasten der Wohnqualität), durch Mieterhöhungen und/oder Verkäufe erreichen. Was macht das mit dem Wohnen und dem Menschenrecht auf Wohnen?

Der Deutsche Mieterbund stellt fest, dass mehr als ein Drittel der 21 Millionen Mieterhaushalte über deutlich durch Wohnkosten überlastet ist: 3,1 Mio. Haushalte zahlen für Kaltmiete und Heizkosten mehr als 40 Prozent ihres Einkommens, und 4,3 Mio. Haushalte zahlen zwischen 30 und 40 Prozent. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung kam Ende 2023 zu dem Schluss, dass in den deutschen Großstädten rund 1,9 Millionen günstige Wohnungen fehlen.

Gab es Mitte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik noch rund 3 Millionen Sozialwohnungen, so sind es inzwischen für das gesamte Deutschland nur noch rund 1 Million. Unterschiedlichen Studien zufolge fehlen 700.000 bis mehrere Millionen Sozialwohnungen. Der Markt, so ist zu konstituieren, hat versagt. Der Markt kann die soziale Wohnungsfrage nicht lösen. Darunter zu leiden haben all die Menschen, die dringend eine Wohnung benötigen bzw. die die völlig überzogenen Mietpreise nicht mehr bezahlen können.

Interessanterweise bestreitet im parlamentarischen Bereich keine Partei, dass es diese Probleme gibt. Alle schreiben „bezahlbare Wohnungen“ auf ihre Plakate, aber weder Bund noch die Länder schaffen Rahmenbedingungen, die heute den Bau von Wohnungen fördern würden, die dauerhaft von breiten Schichten der Bevölkerungen auch zu bezahlen sind. Dieses Versäumnis nutzt besonders eine Partei für sich, die vorgibt, Alternative für Deutschland zu sein. Dabei setzt sie, ganz wie die alten Nazis, auf die Förderung von Wohneigentum. „Das schützt nachhaltig vor Mieterhöhungen, Kündigungen, Altersarmut und bildet inflationssicheres Vermögen“, so in einem zynischen Wahlflyer.

Dass die Lösung der Wohnungsfrage keine einfache Angelegenheit sein würde, hat Friedrich Engels vor rund 150 Jahren sehr deutlich gesagt. Engels zufolge ist diese „erst dann zu lösen, wenn die Gesellschaft weit genug umgewälzt ist, um die Aufhebung des von der jetzigen kapitalistischen Gesellschaft auf die Spitze getriebenen Gegensatzes von Stadt und Land in Angriff zu nehmen …  und wenn diese erst in Gang gebracht, wird es sich um ganz andere Dinge handeln, als jedem Arbeiter ein ihm zu eigen gehörendes Häuschen zu verschaffen.“ (Engels F., 1872: 243).