Ihr Tod sei uns Mahnung und Verpflichtung
1. August 2024
AN24-3, Gedenken, Geschichte, Schlotterbeck
Gedenken an die vor 80 Jahren ermordete Schlotterbeck-„Gruppe“
Wer waren die Menschen, die am 30. November 1944 ohne Prozess in Dachau erschossen wurden? Wie gefährlich waren sie für den NS-Staat, dass man Großeltern, Eltern und Kinder in „Sippenhaft“ nahm? Warum verschwieg die Gestapo den Angehörigen wochenlang die Hinrichtungen, gab Stuttgart statt Dachau als Todesort an und verweigerte die Herausgabe der Leichen? Wo und wie gedenken wir diesen Menschen heute? Welche Lehren ziehen wir für eine Zukunft ohne Faschismus?
Familie Schlotterbeck und ihr Freundeskreis stehen stellvertretend für den Arbeiterwiderstand, den „Widerstand von unten“. Sie gehörten nicht der „schweigenden Mehrheit“ an, sie zeigten Haltung, vertraten und lebten Werte.
Ihr unmittelbarer Nachbar, der Widerstandskämpfer und spätere IG Metall Bezirksleiter Willi Bleicher, hatte dies veranlasst. Als Überlebender der Jahre im antifaschistischen Widerstand wusste er, dass das „Nie wieder!“ nur möglich wird, wenn uns die Lehren aus der Geschichte Mahnung und Verpflichtung sind.
Ob die Nachbarn, Daimlerarbeiter und Mitbegründer der „Gartenstadt Luginsland“, Gotthilf Schlotterbeck und Paul Bleicher, gemeinsam am 9. November 1918 im Wilhelmspalais waren, um dem württembergischen König seine Absetzung mitzuteilen? Vom Maschinenschlosser Gotthilf Schlotterbeck wissen wir es, auch wenn weder Tafel noch Statue daran erinnert. Die Arbeiter, die sich genossenschaftlich zusammengeschlossen hatten, bauten nicht nur Eigenheime, sondern setzten sich für ein besseres Leben, für die Lösung der sozialen Frage und für Frieden ein.
Es war die organisierte Kraft der Arbeiter, die nicht nur von Daimler oder Bosch gefürchtet war. Der Zusammenschluss auf der Grundlage humanistischer Werte, aktiv für ein friedliches, gerechtes Miteinander, für gute Bildung und eine gesunde Umwelt, stand den Profitinteressen des Großkapitals entgegen. Walter Engemann war zwölf, Willi Bleicher elf, Frieder Schlotterbeck neun und seine Schwester Trude acht Jahre alt, als sie die Abschaffung der Monarchie erlebten. Die Erwachsenen erklärten ihnen den Systemwechsel als Erfolg der starken Arbeiterbewegung. Die Jugendlichen in der Gartenstadt besuchten die marxistische Arbeiterschule, organisierten sich im kommunistischen Jugendverband, verteilten Flugblätter gegen Nazis und übten im Rotfrontkämpferbund die Verteidigung. Sie wussten, dass Faschismus Krieg bedeutet, und den wollten sie verhindern.
Sozialdemokraten und Kommunisten erkannten die Gefahr des Faschismus, doch die Einheitsfront gelang nicht. Der Generalstreik in Mössingen wurde nicht zum Signal für einen reichsweiten Streik. Die Machtübertragung an die Faschisten und die Verhaftung politischer Gegner war nicht mehr zu verhindern. Familie Schlotterbeck und ihre Freunde ahnten lange nicht, dass ihr ehemaliger Untermieter Eugen Nesper sie seit 1934 für die Gestapo bespitzelte. 1942 lief er zur sowjetischen Seite über, wurde als Agent ausgebildet und offenbarte Frieder und Hermann Schlotterbeck seine „doppelten Loyalitäten“. Die Flucht in die Schweiz wurde vorbereitet, aber nur Frieder gelang sie. Nesper erschoss einen Grenzbeamten auf seiner Flucht. Die Eltern Schlotterbeck und die Tochter Gertrud wurden verhaftet. Danach Frieders Verlobte Else, Herman Schlotterbeck, seine Kollegen Erich Heinser, Emil Gärttner und Sofie Klenk, Emmy Seitz, Hermann Seitz und Frieda Schwille. Über alle hatte Nesper der Gestapo berichtet. Die Gestapo wusste, dass diese Menschen sich nicht in einer „Gruppe“ zusammengeschlossen hatten, dass sie Verwandte, Freunde und Bekannte waren, die in „Sippenhaft“ nahmen.
Am 30. November 1944 um 5 Uhr morgens wurden ohne Prozess in Dachau erschossen: Gotthilf, Maria und Gertrud Schlotterbeck, Else Himmelheber, Hermann und Emmy Seitz, Erich Heinser, Emil Gärttner, Sofie Klenk und Frieda Schwille.
Theodor Seitz, Bruder von Hermann und Ehemann von Emmy, wurde an der Front verhaftet und am 6. Februar 1945 in Halle an der Saale ermordet. Hermann Schlotterbeck, der unter falschem Namen in Welzheim inhaftiert und gefoltert worden war, wurde am 18. April 1945 bei der Räumung des Lagers bei Riedlingen erschossen. Hermann Rolf Seitz, geboren am 1. Weihnachtstag 1944, starb am 18. März 1945. Wilfriede Sonnhilde Lutz, die zweijährige Tochter von Trude Lutz, wurde nach der Verhaftung der Mutter in ein Kinderheim gebracht. Ihr Onkel Friedrich Schlotterbeck, der nach der Flucht in die Schweiz im Widerstand aktiv war, und seine Frau Anna Fischer nahmen Wilfriede auf und übersiedelten mit ihr 1948 in die DDR. 1953 wurden Frieder und Anna verhaftet. Als Erwachsene traf sich Wilfriede mit der Tochter des für die Verfolgung ihrer Familie verantwortlichen Gestapobeamten Hagenlocher.
Wie gedenken wir heute? – Halbherzig! Seit 1949 erinnert ein Ehrenmal auf dem Untertürkheimer Friedhof an die zehn in Dachau Ermordeten. Ein Gedenkstein am Klärwerk Riedlingen erinnert an Hermann Schlotterbeck, Gottlieb Abele und Andreas Stadler. Es gibt die Schlotterbeck- und Emil-Gärttner-Straße sowie den Hermann-Schlotterbeck-Platz. Stolpersteine erinnern an Sofie Klenk, Else Himmelheber, Emil Gärttner, Emmy, Theo und Hermann Seitz. Buchprojekte und Lesungen sind Anfänge, um Faschismus zu verhindern.
„Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist“, lautet die letzte Zeile von Brechts Gedicht. Angesichts des aufkommenden Faschismus in Europa stellen sich die Aufgaben, Spaltung zu vermeiden, die Einheit der Antifaschisten herzustellen und die Friedensbewegung zu stärken. Ein Verbot aller faschistischen Organisationen, auch der AfD, ist notwendig. Die Stärkung der Gewerkschaften, Förderung humanistischer Bildung und der freien Presse sind entscheidende Hebel.
Ist eine Welt ohne Krieg und Faschismus „das Unmögliche, das nie zu machen ist“? Ob der antifaschistische Kampf erfolgreich sein wird, entscheidet sich durch die Frage, ob die Menschen sich für ein gerechtes System entscheiden, das die Menschenrechte und den Schutz der Natur in den Mittelpunkt stellt – eine Entscheidung gegen das monopolkapitalistische System. Wie dieses System heißen soll und wie es gestaltet wird? Darüber lohnt es sich, ins Gespräch zu kommen, ob zu Hause, am Arbeitsplatz oder beim Gedenken.