Langfassung: Ein Justizopfer im „Dritten Reich“
1. August 2024
Der Fall Elisabeth Swtwiertnia – Ein Beitrag zur historischen Erinnerungsarbeit
Wolfgang Zabrzynski (W.Z.)
Verlag Iris Förster Waiblingen
ISBN 978-3-938812-49-5
Dem Autor fielen 1985 die beiden letzten Briefe seiner Großtante, Elisabeth Szwiertnia, aus deren Haft in die Hände. Deren Schicksal war zum Familiengeheimnis geworden. W.Z. begann zu recherchieren. Er erhielt damals von der Zentralen Stelle der Landsjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg („Zentrale Stelle“) des Urteil des Volksgerichtshofs zur Verfügung; gleichzeitig gab dieser das Verfahren an gegen den letzten überlebenden Beteiligten an diesem Urteil, Herrn Heinz Heugel (Erster Staatsanwalt beim Volksgerichtshof) an die Staatsanwalt beim Landgericht (LG) Berlin ab. Dort wurde das Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit Heugels eingestellt.
Ende 2020 schaute sich der Autor diese Unterlagen nochmals an und vereinbarte einen Termin mit dem Archiv in Ludwigsburg, das die Unterlagen der „Zentralen Stelle“ zur Nutzung bereitstellt. Dabei stellte er fest, dass im 1985 wesentliche Unterlagen nicht ausgehändig worden waren.
Die zusammengestellte „historische Erinnerungsarbeit“ soll laut W.Z. deutlich machen, „… wie leicht ein ganz normales, eher zurückgezogenes Leben vom Räderwerk der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erfasst und vernichtet werden konnte und wie schwer sich die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz damit tat, solche Verbrechen aufzuklären oder gar zu sühnen.“
Dabei bleibt W.Z. nicht stehen: Er geht auf die aktuelle Entwicklung ein und bezieht sich auf zwei aktuelle Beispiele: den Mord an Walter Lübcke am 01.06.2019 und den Anschlagsversuch auf die Synagoge in Halle am 09.10.2019. Er bezeichnet die dauernde Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen als wesentlichen Beitrag „… zur klaren Abgrenzung und Verurteilung als effektive Strategie zur Bekämpfung des in Deutschland erstarkenden Rechtsextremismus.“
Zum Inhalt des Heftes: W.Z. erläutert die Rolle des Massemmordes als Weltanschauung. Dies macht er an den Inhalten von „Eroberungskrieg und Judenvernichtung“ fest. Er zitiert Himmler: „Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.“ Dem mörderischem Ziel war alles andere unterzuordnen. „Justizmord“, die Einrichtung des „Volksgerichtshofes“ und die Einrichtung der „Gestapo“, die auf das Denunziantentum setzte, waren die logische Folge.
W.Z. geht auf die konkrete politische Entwicklung im Sudetenland ein, ausgehend von der antisemitischen Propaganda bei der Reichsratswahl 1901, damals zu Österreich-Ungarn gehörend. 1919 wurde das Sudentenland Teil der neu gebildeten Tschechoslowakei. Durch das sogenannte „Münchner Abkommen“ wurde dieses Gebiet mit 3,6 Millionen Einwohnern, davon etwa 30.000 Juden, an das „Deutsche Reich“ angeschlossen.
Er stellt das Leben seiner Großtante Elisabeth dar – soweit dieses noch recherchierbar ist:
Sie wurde am 26.03.1905 in Troppau (heute: Opava, Tschechien) geboren, zwei Jahre später kam ihre Schwester Maria zur Welt. Wegen des Todes des Vaters wurden beide Mädchen bereits sehr früh einem Vormund zugeteilt. Elisabeths Schulausbildung endete mit dem Besuch der Handelsschule in Troppau. Elisabeth wird in dieser Zeit als sehr lebenslustiges Mädchen bzw. junge Frau dargestellt. Sie nimmt eine Arbeit bei einer Filmzeitung in Wien auf, 1926 wechselt sie als Kassiererin zu einer jüdischen Firma in Berlin. 1929 kehrt sie ebenfalls zu einer jüdischen Firma nach Troppau zurück. Sie freundet sich mit dem jüdischen Ingenieur Viktor Potaravsky (Brünn/Brno) an. Ebenfalls zählt die jüdische Frau eines Troppauer Lehrers zu ihrem Freundeskreis.
Nach der Einverleibung des Sudentenlandes ins „Deutsche Reich“ wurde der Betrieb „arisiert“, Viktor Potaravsky ist wahrscheinlich nach England geflohen. Elisabeth wurde nervenärztlich behandelt. Am 13.12.1938 nahm sie bei Oberbürgermeister von Troppau eine Arbeit als Kanzleikraft an.
Diese Einzelheiten bleiben auch einem „Parteigenossen“ der NSDAP, Josef Schuch, nicht verborgen.
Verhaftung, Prozess und Hinrichtung:
Das „Vergehen“: W.Z. bezieht sich auf eine Vermutung, dass seit 1944 regelmäßig eine Gruppe englischer Kriegsgefangener an der Wohnung von Elisabeth vorbeimarschiert ist. Sie wurde seit Februar 1944 vom „Parteigenossen“ und Spitzel Karl Gondek dabei beobachtet, dass sie versuchte, von ihrem Fenster aus Kontakt zu den Engländern herzustellen. Am 31.03.1944 lief sie einem Gefangenentrupp hinterher, um einem Engländer „Zettel und Pappdeckel“ zu übergeben, die u.a. Hitler am Galgen und eine englische Flagge zeigten. Ob sie eine Botschaft an Viktor Potaravsky übergeben wollte, muss offen bleiben. Der Übergabeversuch misslang. Der Aufseher der Kriegsgefangenen und ein Finanzangestellter (Karl Sirsch) wurden auf Elisabeth aufmerksam und konnten sie mit Hilfe zweier weiterer Männer festhalten. Sie wurde an die Gestapo übergeben.
Am 03.04.1944 wurde sie dem örtlichen Ermittlungsrichter des Volksgerichtshof vorgeführt.
Das nationalsozialistische Netzwerk lenkte den Prozess sofort in die „richtigen Bahnen“. Am 13.04.1944 intervenierte die regionale NSDAP-Führung. Dr. Augst schreibt an den Oberstaatsanwalt des Sondergerichtes Troppau: „Im Auftrag des Gauleiters bitte ich Sie, das Strafverfahren … mit möglichster Beschleunigung durchzuführen.“
Der Prozess: Am 10.05.1944 beantragt Reichsanwalt Parrisius vor dem Volksgerichtshof die Eröffnung des Hauptverfahrens. Gegenstand: Feindbegünstigung nach § 91b StGB. Der in der Anklage unterstellte Kontakt mit dem Kriegsgefangenen konnte indessen nicht bewiesen werden. Als besonders verwerflich wurden Elisabeths Kontakte zu Juden dargestellt.
Am gleichen Tag schreibt ihre Schwester Maria einen Brief an den Oberstaatsanwalt und weist auf das Nervenleiden Elisabeths hin.
Im Urteil vom 14.06.1944 wurde eine „Wehrkraftzersetzung“ konsturiert, was üblich war, um Bagatelldelikte mit der Todesstrafe zu ahnden.
Verantwortliche Beteiligte waren: Roland Freisler, Landgerichsdirektor Erich Schlemann und der Erste Staatsanwalt Heinz Heugel, sowie 3 Beisitzer, deren beruflichen Hintergrund W.Z. aufschlüsselt. Mit diesem auserwählten Kreis sollte „das Volk selbst zum Träger der Rechtspflege gemacht werden.“
W.Z. hebt die Rollen Freislers und die des Laienrichters Herbert Linden hervor, der ein wesentlicher Betreiber der Euthasiemorde war.
Ersterer sprach gleich zu Beginn des Prozesses davon, dass die Angeklagte „für ihre Ehre als Deutsche nie den rechten Sinn hatte“ und bezog sich darauf, dass sie „jahrelang ein Verhältnis zu einem Juden“ hatte. Letztlich müsse die Angeklagte sterben, damit das deutsche „Volk seine gemeinschaftliche Sauberkeit “ behält.
Stationen einer Hinrichtung: Beide Schwestern reichten Gnadengesuche ein, Elisabeth am 16.06.1944 sowie am 22.07.1944, Maria am 02.07.1944. Außerdem bat Elisabeth ihren Pflichtverteidigerin dreimal um einen Besuch, der ihr aus „dienstlichen Gründen“ verweigert wurde. Den Gnadengesuchen wurde nicht stattgegeben. Dies wurde ihr am 11.08.1944 um 11:30 Uhr mitgeteilt, um 13:00 Uhr wurde das Todesurteil vollstreckt.
W.Z legt dar, dass dieser Umgang mit Gnadengesuchen System hatte, ja, es kam sogar zu Hinrichtungen „aus Versehen“. Er kreidet der Nazijustiz insbesondere Rechtsbeugung bei ohnehin schon verbrecherischen Gesetzen an. So waren die dem Urteil zu Grunde gelegten Tatbestände nicht erwiesen, „minderschwere“ Fälle wurden nicht geprüft. Ebenso wurde das Recht auf eine angemessene Verteidigung unterlaufen, indem den Angeklagten „linientreue“ Pflichtverteidiger zur Seite gestellt wurden.
Über die reine Sachrecherche hinaus untersucht W.Z. den Umgang der bundesdeutschen Justiz mit der Nazijustiz und ihren Helfershelfern. Die Ermittler und der Gestapobeamte wurden mit der Begründung, deren Tätigkeit habe keinen Einfluss auf das spätere Urteil gehabt, nicht belangt. Dies entspreche nicht den historischen Begebenheiten. Auch die Denzianten wurden nicht belangt, 1985 hauptsächlich mit dem Hinweis, dass diese mutmaßlich inzwischen gestorben oder zumindest verhandlungsunfähig seien. Zudem käme hier allenfalls Totschlag oder Beihilfe dazu in Frage, diese Taten seien inzwischen verjährt. Auch den Laienrichtern könne angeblich kein Vorsatz nachgewiesen werden.
Der Erste Staatsanwalt Dr. Heinz Heugel wurde gleichfalls nicht belangt, auch wenn ihm nachgewiesen werden konnte, dass er zwischen dem 23.02.1942 und dem 08.01.1945 an mindestens 58 Verfahren beteiligt war, in denen Angeklagte zum Tode verurteilt wurden. Ebensowenig wurde die Pflichtverteidigerin Ilse Schmelzeisen-Servaes belangt, die den Gesprächswünschen von Elisabeth nicht nachgekommen war.
W.Z. zieht das Fazit, dass die deutschen Gerichte bei der Verfolgung von NS-Verbrechen zwar nicht völlig versagt hätten, auffällig sei aber, dass insbesondere die Richter und Staatsanwälte am Volksgerichtshof völlig verschont blieben.
Aus Sicht des Autors wäre es wünschenswert, wenn das Andenken an seine Großtante durch die Verlegung eines Stolpersteins gewürdigt werden würde. Hier tut sich die tschechische Gemeinde Opava jedoch schwer.
Dem Autor der 32-seitigen Erinnerungsbroschüre ist ausdrücklich für seine umfangreichen Recherchen zu danken, ebenso dafür, dass er das Geschehen und deren Nichtaufarbeitung durch die deutschen Behörden nach 1945 in den passenden geschichtlichen und politischen Rahmen eingeordnet hat. Der letzte Wunsch der Hingerichteten an ihre Schwester lautet: „Ich wünsche Dir eine bessere Zukunft, das ist mein letzter Gedanke.“
Dieser Wunsch ist im Wahljahr 2024 eine Aufforderung an uns Nachgeborene: „Nie wieder Faschismus!“