Sozialabbau im Gesundheitswesen ist nicht neu

geschrieben von Monika Münch-Steinbuch

1. August 2024

, ,

„Sozialverträgliches Frühableben“ Dieses Unwort des Jahres 1998 stammt von Karsten Vilmar, damals Präsident der Bundesärztekammer. Im Interview mit dem NDR sagte er: „dann müssen die Patienten mit weniger Leistung zufrieden sein, und wir müssen überlegen, ob diese Zählebigkeit anhalten kann, oder ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen.“ Auf die Frage, ob die Pläne der Regierung zu einem frühen Tod der Patienten führen würden, meinte Vilmar: „Wird diese Reform so fortgesetzt, dann wird das die zwangsläufige Folge sein.“

Mit den Ölkrisen der 1970er Jahre und der steigenden Arbeitslosigkeit wurde ein Paradigmenwechsel hin zur neoliberalen, angebotsorientierten Wirtschaftspolitik auf der Grundlage der Lehren von Hayek und Milton/Friedman eingeleitet. Wirtschaftsminister Lambsdorf forderte, die Sozialausgaben zugunsten von Investitionen zurückzufahren, aber auch die Beseitigung von Gewerbe- und Vermögenssteuer und Kompensation durch Anheben der Mehrwertsteuer. Dazu kam die Reduzierung staatlicher Absicherung von privaten Lebensrisiken und das Sichern der Beitragsstabilität zu den Sozialversicherungen durch höhere Eigenbeteiligung, Einschnitte bei Mutterschaftsgeld, BAFÖG und Wohngeld. Damit gingen auch Maßnahmen zur Wettbewerbsförderung und Deregulierung mit Privatisierung öffentlicher Leistungen einher, verbunden mit dem „Appell an die Länder und Gemeinden zu verstärkten Anstrengungen bei der Verlagerung bisher öffentlich angebotener Leistungen auf den privaten Bereich und der Förderung von Existenzgründungen und Unternehmergeist schon in den Schulen“.

Das Gesundheitswesen befindet sich naturgemäß auf der konsumtiven bzw. reproduktiven Seite der volkswirtschaftlichen Bilanz. Damals wie heute ist die Auseinandersetzung um ein Gesundheitswesen, das den Lebensinteressen der arbeitenden Menschen und ihren Angehörigen gerecht wird, ein Kampf, der den Profitinteressen des Kapitals zuwiderläuft. Allerdings braucht das Kapital ausbeutbare Arbeitskraft, die schließlich den heißbegehrten Mehrwert produzieren können soll. Diese Achillesferse bewirkt widersprüchliche Interessenkonstellationen auf der Kapitalseite, die sich die Arbeiterklasse abhängig von ihrer Kampfkraft zunutze machen kann, solange das Gesamtinteresse der Kapitalisten an möglichst hoher Profitrate nicht in Frage gestellt ist.

Im deutschen Faschismus wurde dieses Prinzip der Rentabilität auf die Spitze getrieben und mitunter durch die „Euthanasie“, genannte organisierte Ermordung von „Ballastexistenzen“, politisch gnadenlos durchgesetzt. Obgleich das Grundgesetz der Bundesrepublik zwar keine explizite Verankerung sozialer Rechte – wie etwa dem Recht auf Gesundheit, Arbeit und Wohnen – kennt, findet sich im Artikel 20 aber das Sozialstaatsgebot.

Dennoch wurde im westdeutschen Nachkriegsgesundheitssystem nicht vollständig mit dem Profitprinzip gebrochen. Zwar wurde den Kommunen und Kreisen die Verantwortung für den stationären Bereich übergeben, die Verantwortung für die ambulante Versorgung wurde jedoch privatwirtschaftlich in kleinen ärztlichen Einzelunternehmen organisiert.

Den Wiederaufbau bzw. Neubau und die Renovierung der Krankenhäuser konnten sich die Krankenhausträger vor allem mit den beginnenden Wirtschaftskrisen immer weniger leisten, es war ein ungeheurer Nachholbedarf entstanden, sowohl baulich als auch in der Personalausstattung. Nachts war selbst in Unikliniken oft genug nur eine einzige ausgebildete Pflegekraft zur Betreuung fast aller Stationen anwesend, ansonsten Hilfskräfte wie Studenten oder Hausfrauen. Personalmangel ist also nichts neues.

1972 wurde die Finanzierung der Krankenhäuser zu ihrer wirtschaftlichen Sicherung neu geregelt. In diesem Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) wurde die duale Finanzierung der Krankenhäuser festgeschrieben. Das heißt, für Krankenhausplanung und Finanzierung der Investitionskosten von Kliniken waren und sind die Bundesländer zuständig, für die Betriebskosten aber mussten und müssen die Krankenkassen aufkommen, zunächst im Rahmen der Selbstkostendeckung.

1974 wurden Lohn- und Gehaltserhöhungen von über 11 Prozent und der Anspruch auf die 40-Stundenwoche durchgesetzt, entsprechend vorgegeber Anhaltszahlen wurde mehr Personal wurde ausgebildet und eingestellt; aus Korea und den Philippinen wurde zusätzliches Pflegepersonal abgeworben. Der medizinische Fortschritt trug zur Reduzierung der Liegezeiten bei. Die oben skizzierten ökonomisch-politischen Rahmenbedingungen führten Mitte der 1970er Jahre trotz Nachvollziehbarkeit der Ausgabensteigerungen zu ersten Kostendämpfungsmaßnahmen. In das KHG wurde die Verpflichtung eingeführt, die Trägervielfalt zu erhalten, die privaten Klinikbetreiber besonders abzusichern, sowie ab 1985 die Gewinn- und Verlustrechnung in den Krankenhäusern zuzulassen. Somit wurde neoliberale Wirtschaftspolitik dann fest im Gesundheitssystem verankert. Über Budgeteinführung und -deckelung sowie Sonderentgelten wurde die Einführung der Fallpauschalen vorbereitet, ein komplexes, aber nicht auskömmliches Preissystem für diagnostische und therapeutische Maßnahmen im Krankenhaus. Damit war das Selbstkostendeckungsprinzip ausgehebelt.

Seit 2004 können Betriebskosten nur noch über diese Fallpauschalen gegenüber den Kassen abgerechnet werden. Die Bundesländer kommen ihren Verpflichtungen zur Finanzierung seit 1996 nicht mehr im erforderlichen Umfang nach, wodurch jedes Jahr ein Investitionsstau von fast vier Milliarden Euro entsteht. Oft genug wurde auf Planstellen für bessere Patientenversorgung zugunsten von Baustellen verzichtet. 2015 fehlten laut Gewerkschaft ver.di 160.000 Arbeitskräfte in den Kliniken, davon rund 100.000 in der Pflege – bei steigenden Patientenzahlen. Arbeitshetze und Abstriche bei der Patientenbetreuung gehören zum klinischen Alltag. Bundesweit abertausende Überlastungsanzeigen haben kaum Konsequenzen. Die PPR2 gebabbte Pflegepersonalregelung, die von der Deutschen Krankenhausgesellschaft zusammen mit dem Deutschen Pflegerat und der Gewerkschaft ver.di erarbeitet wurde, ist immer noch nicht umgesetzt.

Der Anteil an profitorientierten privatwirtschaftlichen Kliniken wuchs von ursprünglich 5 auf inzwischen 37,5 Prozent, die Sana AG, Asklepios, Rhön-Klinikum AG und Helios bereichern sich an vormals öffentlichem Eigentum. Besonders im Osten Deutschlands ist dies deutlich zu beobachten: Dort übernahmen diese Aktiengesellschaften 49 Prozent der ehemals volkseigenen Krankenhäuser der DDR. Ende März 2015 gehörten z.B. zum Fresenius-Helios-Klinikkonzern 87 Akutkrankenhäuser, dabei 7 Maximalversorger, 24 Rehakliniken und 24 ambulante medizinische Versorgungszentren – Gewinn 2015 allein 23 Prozent, 2022: 766Mio Euro.

Um die Gesundheitsversorgung zu einem profitablen Geschäft zu machen, setzen diese Aktiengesellschaft auf mangelhafte Personalausstattung, Outsourcing von patientenfernen Bereichen und dem Umgehen von Tarifzahlungen. Zur Profitmaximierung findet dann durch Konzentration auf die lukrativen Behandlungsformen wie orthopädischen Operationen Patientenselektion statt. Nicht profitable Standorte werden geschlossen. Zurzeit gibt es noch etwa 1.893 Krankenhäuser in Deutschland. Seit 1991 wurden 518 mit insgesamt 180.000 Betten geschlossen. Durch Verschiebung von fast 3.000 stationären Eingriffen in den ambulanten Bereich soll die Anzahl der Krankenhäuser weiter reduziert werden.

Der zu Lasten der Bevölkerung fallende Sozialabbau im Gesundheitswesen im Interesse der Profitmaximierung ist also nicht neu, sondern hat in der Bundesrepublik Tradition. Aber mit der Einstimmung der Gesellschaft auf die ausgerufene „Kriegstüchtigkeit“, ist zu erwarten, dass dieser Kahlschlag eine neue Qualität annimmt: nicht mehr das Wohl des einzelnen Patienten wird Ziel ärztlicher Tätigkeit sein, sondern möglichst vielen in möglichst kurzer Zeit zu helfen. Wenn mehr Behandlungszeit nötig ist, überlässt man die Menschen ihrem Schicksal. Das ist Triage, Kriegsmedizin. 20 Prozent der Krankenhausbetten mussten während der Pandemie für Coronapatienten freigehalten werden – ähnliches kommt im Spannungs- oder Bündnisfall auf uns zu.

Bereits im Koalitionsvertrag der Ampel ist ein Gesundheitssicherstellungsgesetz vorgesehen, dass die zivil-militärische Zusammenarbeit im Gesundheitswesen, also. Meldung, Verteilung und Zuständigkeiten für Personal, Patienten und Ressourcen im Katastrophen- und Kriegsfall regeln soll. Laut Oplan Deutschland der Bundeswehr ist mit 100.000 schwerverwundeten Soldaten zu rechnen, die in unseren Krankenhäusern zu versorgen wären. Gesundheitsminister Lauterbach am 2. März 2024: “Es wäre albern zu sagen, wir bereiten uns nicht auf einen militärischen Konflikt vor. Es braucht auch eine Zeitenwende für das Gesundheitswesen, zumal Deutschland im Bündnisfall zur Drehscheibe bei der Versorgung von Verletzten und Verwundeten auch aus anderen Ländern werden könnte. Wir haben schon heute so viele schwerstverletzte Menschen aus der Ukraine zur Behandlung aufgenommen wie kein anderes Land, es sind knapp 1000.“

Es ist an uns, die soziale Frage und die Friedensfrage zusammenzudenken.