Antifaschistischer Neubeginn auch in Westdeutschland
10. Juni 2025
AN25-2, Demokratie, Geschichte
Der 8.Mai ist Anlass daran zu erinnern, wie Überlebende der Konzentrationslager, Widerstandskämpfer und andere Antifaschisten nach der Befreiung gemeinsam den Neubeginn organisierten und ein antifaschistisches und demokratisches Deutschland aufbauen wollten.
Nach dem Sieg über den deutschen Faschismus wollten die Alliierten verhindern, dass jemals wieder Krieg und Zerstörung vom zukünftigen Deutschland ausgeht. Bei der Jalta-Konferenz im Februar 1945 beschlossen sie: „Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören und Sorge zu tragen, dass Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu stören.“ Die Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 legte die Grundlagen für das zukünftige Deutschland fest. Der Wiederaufbau und die Gestaltung des Staates sollten nach den Prinzipien der Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Demokratisierung und Entmonopolisierung erfolgen.
Groß- und Finanzkapital, Deutsche Bank und IG Farben etc. hatten die NSDAP an die Macht gebracht und von Krieg und Völkermord profitiert. Die Erkenntnis daraus, dass Militarisierung und faschistische Entwicklungen gemeinsame Wurzeln haben, nämlich das Streben nach wirtschaftlicher und politischer Vormacht kapitalistischer Staaten, teilten auch in Westdeutschland die meisten Menschen, die am demokratischen Neubeginn mitarbeiten wollten. Sie einte der Wunsch nach einem tiefgreifenden Neubeginn, nach politischer und gesellschaftlicher Umwälzung.
Nicht nur die Vorgängerorganisation der VVN-BdA, die schon im Juni 1945 gegründete „Vereinigung der politischen Gefangenen und Verfolgten des Naziregimes“ stellte ihre Arbeit auf diesen Grundkonsens. Auch die neu gegründeten Parteien teilten ihn. Für die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum traten alle Parteien ein. In den Kölner Leitsätzen des ersten Grundsatzprogramms der CDU vom Juli 1945 hieß es noch eindeutig: „Die Vorherrschaft des Monopolkapitals, der privaten Monopole und Konzerne wird gebrochen.“ Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer sorgte dafür, dass dieser Weg zu einem „christlichen Sozialismus“ abgebrochen wurde.
Der antifaschistische Konsens fand Eingang z.B. auch in die Hessische Landesverfassung, in die Bestimmungen zur Sozialisierung von Industrie, Großbanken, Energiewirtschaft u.a. Großbetrieben aufgenommen und durch eine Volksabstimmung am 1.12.46 bestätigt wurden. Die Umsetzung wurde allerdings durch den US-Militärgouverneur verhindert, indem er die unmittelbare Wirksamkeit dieses Beschlusses aufhob.
Im Grundgesetz finden sich ebenfalls noch Reste des antifaschistischen Grundkonsens: es enthält keine Festlegung auf eine bestimmte Wirtschafts- und Eigentumsordnung. Die Artikel 14 (Eigentum soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen), Art 15 (Enteignungsmöglichkeit) und Art 20 (Sozialstaatspostulat) weisen über eine reine Privatwirtschaft hinaus. Wegen der allgemeinen Ablehnung von Militär und Krieg sah das GG keine Bestimmungen über eine Armee vor. Dies wurde erst nach dem gescheiterten Kampf der breiten Volksbewegung gegen die Remilitarisierung und Gründung der Bundeswehr geändert. Für heutige antimilitaristische Kämpfe ist auch der Hinweis auf Art 26 wichtig, der das Führen eines Angriffskrieges verbietet. Und für aktuelle Auseinandersetzungen im Kampf gegen rechts und Abbau demokratischer Rechte muss immer wieder an die im GG verankerten Menschenrechte und den Art 139 erinnert werden, der ausdrücklich feststellt, dass die Rechtsvorschriften zur Entnazifizierung durch das GG nicht aufgehoben sind.
In den ersten Landesregierungen arbeiteten alle demokratischen Parteien, einschließlich der KPD mit. Diese Ansätze wurden zerstört, als die USA mit der Verkündigung der Truman-Doktrin den Kalten Krieg eröffneten. Blockkonfrontation gegen die Sowjetunion und die Wiederbelebung des Antikommunismus sorgten dafür, dass Kommunisten immer weiter ins gesellschaftliche Abseits gestellt und verfolgt wurden. Und mit ihnen auch die meisten Verfolgten des NS-Faschismus und ehemalige Widerstandskämpfer. Kommunisten wurden aus den Länderregierungen und öffentlichen Ämtern entlassen. Im Zuge des einsetzenden Kalten Krieges und der Westbindung der BRD wurden antifaschistische und sozialistische Entwicklungen in Westdeutschland abgebrochen. Aufbrechende Systemkonflikte förderten die Kontinuität von Naziideologie. Netzwerke alter Nazis und Militaristen gewannen großen Einfluss beim Aufbau der jungen Bundesrepublik. Statt Neubeginn setzte sich gesellschaftliche und politische Restauration durch.
Demokratie von unten aufbauen
Die gesellschaftliche und politische Entwicklung war 1945 noch offen, viele teilten die Hoffnungen auf einen demokratischen Neubeginn. Mit der Schaffung von basisdemokratischen Strukturen schien der demokratische Ausbau von unten möglich. Ehemalige Verfolgte, Widerstandskämpfer und Antifaschisten Vertreter aller politischen Richtungen schlossen sich sofort nach der Befreiung in Antifaschistischen Ausschüssen zusammen. Sie einte der Wille, nach gemeinsam erlittener Verfolgung und Not eine politische und gesellschaftliche Neuordnung in Deutschland aufzubauen.
Die Antifaschistischen Ausschüsse wollten insbesondere in drei Bereichen arbeiten:
- Entnazifizierung besonders in der Verwaltung, antifaschistische Aufklärungsarbeit, Heranziehen der Nazis zu Wiederaufbauarbeiten, Enteignung von NS-Vermögen
- Lösung von Alltagsproblemen, (Schaffung von Arbeitsplätzen, Wohnungs- und Lebensmittelversorgung, Organisation von Verkehrsmittel, Brennmittelbeschaffung, Herstellung und Wahrung der öffentlichen Ruhe und Ordnung)
- Wiederaufbau des politischen Lebens durch Gründung von örtlichen Vereinen und Gewerkschaften, Vorbereitung von Wahlen zu Gemeinderäte
Wie das Beispiel von Stuttgart und Tübingen zeigt, wurden ihre Handlungsmöglichkeiten in der amerikanischen und französischen Besatzungszone von Beginn an eingeschränkt.
In Stuttgart gründeten sich in den Stadtteilen ab Ende April Kampfkomitees gegen den Nationalsozialismus als „Organisation aller aufbauwilligen und entschieden nazifeindlichen Kräfte … aus Sozialisten, Kommunisten, Demokraten und Christen.“ In Flugblättern und Zeitungen nannten sie als gemeinsames Ziel, den „Kampf gegen Nationalsozialismus und Militarismus in allen ihren Erscheinungsformen und deren Ausrottung mit Stumpf und Stiel“, und das Eintreten „für ein demokratisches, sozialistisches Deutschland“.
Von der amerikanischen Militärverwaltung wurden sie zunächst geduldet, per Erlass aber schon am 25.5.45 aufgelöst. Der Militärregierung wollte die politische Kontrolle behalten, sie hatte befürchtet, dass die Komitees sich zu „einer Art Nebenregierung“ mit eigenem politischem Anspruch entwickeln würden.
Die Komitees bildeten sich danach in Arbeitsausschüsse um, die von der Militärregierung zwar geduldet, aber unter die Kontrolle des Oberbürgermeisters gestellt wurden. Sie sollten „ohne politischen Anspruch“ arbeiten. Ihre Tätigkeit wurde von Seiten der Verwaltung als „Hilfsorgane der Behörden“, beschrieben. 50 Arbeitsausschüsse arbeiteten fast eineinhalb Jahre in allen Stadtteilen, koordiniert durch eine zentrale Leitung. Sie organisierten die Lebensmittelverteilung, Brennstoffbeschaffung, Wohnungsbeschaffung und -vermittlung, Organisation der Trümmerbeseitigung, Aufstellung der Sicherheitspolizei. Versammlungen wurden durchgeführt und die Gründung der Gewerkschaften eingeleitet. Im Sinne des Volksfrontgedankens traten sie für eine Zusammenarbeit mit den Arbeiterparteien ein.
Die politische Arbeit auf kommunaler Ebene wurde allerdings einem Gemeindebeirat übertragen, dessen Mitglieder ab dem Sommer 1945 die Restrukturierung und Tätigkeit der Ämter leitete und dann auch die erste Gemeinderatswahl vorbereitete, die im Januar 1946 durchgeführt wurde.
Die rein ehrenamtlich arbeitenden Arbeitsausschüsse leisteten in den ersten Monaten nach der Befreiung einen sehr großen Anteil an der Wiederherstellung des kommunalen und Alltagslebens. Mit der Konsolidierung der kommunalen Ämter unter der Leitung des von der Militärregierung eingesetzten Oberbürgermeister Kletts, verloren die Arbeitsausschüsse nach ihre Aufgaben und ihre Bedeutung und wurden bis Anfang 1947 nach und nach aufgelöst.
Auch in Tübingen wollten Antifaschisten gemeinsam am Neubeginn mitwirken und die Spaltung der Arbeiterbewegung überwinden.Zunächst schlossen sie sich als Antifaschistischer Block zusammen. Im Mai 1945 gründeten sie die „Demokratische Vereinigung“. Auch hier arbeiteten Antifaschisten aller politischen Richtungen mit, insbesondere Gewerkschafter, Kommunisten und Sozialdemokraten. Ähnlich wie in Stuttgart organisierte die DV Arbeitseinsätze zur Beseitigung von Kriegsschäden, die Lebensmittelversorgung und arbeitete in Entnazifizierungsausschüssen mit. Ein von ihr initiierter vorläufiger Gemeinderat trat schon am 25.Mai zusammen. Nach wenigen Sitzungen wurde er vom französischen Kommandeur aufgelöst. Erst im September 1946 konnte ein Gemeinderat gewählt werden. Im Juli 1945 beantragte der Vorsitzende der DV die Zulassung von Gewerkschaften, deren Gründung jedoch erst im Herbst 1946 genehmigt wurde.
Im Zuge der Konsolidierung der Verwaltungsbehörden wurden die Initiativen der DV immer häufiger abgeblockt und wesentliche Entscheidungen über sie hinweg getroffen. Mit einem Erlass des Staatsekretariats vom März 1946, „wonach in Zukunft keine Versammlung einer antifaschistischen Bewegung abgehalten werden darf, ehe diese nicht die Genehmigung zur Vereinsgründung erhalten hat“ wurden alle Ansätze für eine politische Tätigkeit der Demokratischen Vereinigung verboten. Ihre Mitglieder beschlossen darauf ihre Tätigkeit für die DV zu beenden und lösten sie im April 1946 auf.
Die Antifaschistischen Ausschüsse hätten Träger einer tiefgreifenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und für einen antifaschistischen Neubeginn auch in Westdeutschland sein können. Sie konnten sich auf den Wunsch oder zumindest die Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung stützen, diese Entwicklung weiterzuführen. Ihre Arbeit wurde bewusst auf Hilfsdienste für die Verwaltungen reduziert. Die Chance für einen Neubeginn unter antifaschistischer und radikaldemokratischer Zielsetzung wurde durch politisches Betätigungsverbot der Militärregierungen und des konsolidierten (alten) Verwaltungsapparats eingeschränkt und abgewürgt und der Weg zur Restauration der alten politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Westdeutschland beschritten.