Der 8. Mai muss gesetzlicher Feiertag werden!
19. September 2025

Zum 80. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg veranstalteten im oberschwäbischen Raum Ulm-Ravensburg-Bodensee mehrere antifaschistische Bündnisse Festakte und Gedenkfeiern. Das Motto der Veranstaltungen lautete: Gemeinsam gegen Rassismus, Hass und Krieg – Gemeinsam für Toleranz, Demokratie und Frieden.
Ulm, 8. Mai: Rund 190 Menschen füllten den Saal des Stadthauses zu dem von Freidenkern, VVN-BdA, Naturfreunden und Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg (DZOK) organisierten Festakt „80 Jahre Befreiung vom Faschismus“. Die Turiner Gruppe La Desbandá begeisterte mit Liedern gegen den Krieg. Claudia Feuchter von den Freidenkern Ulm begrüßte Oberbürgermeister Martin Ansbacher und Nicola Wenge, Leiterin der KZ-Gedenkstätte DZOK.
Der OB verwies mit Stolz darauf, dass viele UlmerInnen sich klar gegen rechtsextreme Tendenzen stellen und sich gegen Faschismus, Fremdenhass und Ausgrenzung engagieren. Beispielhaft nannte er die zehntausenden Demonstrierenden, die im Februar 2025 sowie vor einem Jahr gegen Rechtsextremismus auf dem Ulmer Münsterplatz strömten.
Nicola Wenge vom DZOK Ulm erinnerte an den 8. Mai 1985, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Gedenkstunde des Bundestags einen Paradigmenwechsel bei der Betrachtung des 8. Mai herbeiführte. Während dieser Tag in allen anderen europäischen Ländern schon immer als Befreiung gefeiert werde, sei in Deutschland in der breiten Öffentlichkeit erst seit Weizsäckers Rede eher von Befreiung als von Niederlage die Rede. Sie forderte auf, nicht nur zu erinnern, sondern auch Konsequenzen im heutigen Handeln zu ziehen. Hier zitierte sie Esther Bejarano, zu deren Ehren am tags zuvor in Neu-Ulm ein Platz benannt worden war.
Weingarten 9. Mai: Auch im vollen Kulturzentrum Linse spielte die Gruppe La Desbandá zum Konzert auf, bevor Josef Kaiser von der VVN-BdA Ravensburg die Gäste begrüßte, darunter den 98-jährigen Alois Thoma als Zeitzeugen der Befreiung sowie Cornelia Kerth, die Bundesvorsitzende der VVN-BdA. Dabei war auch Nicola Wenige vom DZOK Ulm und die Orbassaner Ortsgruppe der ANPI (Nationale Vereinigung der PartisanInnen Italiens), mit der die VVN-BdA seit Jahrzehnten zusammenarbeitet.
Im verlesenen Grußwort von Oberbürgermeister Clemens Moll wurde der 8. Mai 1945 als Anfang eines anderen Deutschlands, eines neuen Europas und einer Ordnung bezeichnet, die sich auf Menschenwürde, Frieden und das unbedingte Nein zu Diktatur, Rassenwahn und Krieg gründet. Dieses Nein sei nie selbstverständlich gewesen, sondern errungen und oft mit dem Leben bezahlt worden. Das dürfe nicht vergessen werden. Deshalb sei Erinnern keine Pflichtübung, sondern eine Haltung. denn wer heute Geschichtsvergessenheit dulde, bereite dem Hass von morgen den Weg.
Im Grußwort der ANPI Orbassano überbrachte Vito di Salvo die Hoffnung, dass auch in Deutschland, der Tag der Befreiung und das Ende des Krieges mit einem gesetzlichen Feiertag gewürdigt und gefeiert wird.
Nicola Wenge vom DZOK Ulm nannte den 10. Dezember1948 als wichtigen Meilenstein für den Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit: An diesem Tag verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – als direkte Reaktion auf den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg als bis heute verheerendsten Krieg in der Menschheitsgeschichte. Sie zitierte den französischen Schriftsteller Stephane Hessel, der als Résistance-Kämpfer und Überlebender des KZ Buchenwald zu den Mitverfassern der Menschenrechtserklärung gehörte. Im Rückblick habe er folgendes gesagt: „Kein Zweifel, die Unterzeichnung dieser Resolution am 10. Dezember 1948, hier in Paris, ist der Moment des 20. Jahrhunderts. Ohne den Schock des Holocaust wäre er nicht möglich gewesen. Als der Krieg zu Ende war, dachten wir: Entweder geht jetzt die Welt unter, oder es kommt etwas ganz Neues. Und was war dieses Neue? Es war der Sieg einer neuen, anderen Vision des Menschen und der Gesellschaft.“
Der Schwur von Buchenwald, die Menschenrechtserklärung der UN – nach Wenges Worten sind das bis heute zentrale Orientierungspunkte für eine demokratische Gesellschaft, in der Menschen unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe, von Geschlecht oder Religion gleichberechtigt in Würde und Freiheit miteinander leben. Ankerpunkte für die Vision von einer Staatengemeinschaft, die ihre Herrschaft vom Schutz der Menschenwürde ableite.
Doch auch in der Bundesrepublik stehe die Demokratie unter Druck: Bei der letzten Bundestagswahl sei die AfD zweitstärkste Partei geworden, in Thüringen stelle sie sogar die stärkste Landtagsfraktion. Zwar, zitierte sie den Leiter der Gedenkstätte Buchenwald ,Jens-Christian Wagner, sei „nicht jeder, der die Partei gewählt hat, ein Rechtsextremist. Aber jeder, der sie gewählt hat, hat Rechtsextreme gewählt: Leute, die unsere Arbeit in den Gedenkstätten als „Schuldkult“ diskreditieren.“
Tatsächlich, führte sie weiter aus, erlebten wir in Deutschland einen erinnerungskulturellen Klimawandel, der weit über die AfD hinausgehe und bis in die Mitte der Gesellschaft reiche. Das Bewusstsein für die Relevanz der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen für unsere demokratische Selbstverständigung habe in den vergangenen Jahren bei vielen Menschen deutlich nachgelassen. Laut einer Umfrage der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ von März 2025 fordern 90 Prozent der AfD-Anhänger und 58 Prozent der Unions-Wähler einen „Schlussstrich“. 87 Prozent der AfD-Wähler und 74 Prozent der FDP-Wähler fänden, dass die ständige Erinnerung ein gesundes Nationalgefühl verhindere. Ganz gezielt reaktiviere die radikale Rechte die Topoi von der „ewigen Vergangenheitsbewältigung“, vom „Schuldkult“ und von einer „von den Siegermächten aufgezwungenen Geschichtsbetrachtung.“ Um die geschichtspolitischen Weichen umzustellen, markiere sie den 8. Mai bewusst wieder als Tag des Beginns von „Leid, Entrechtung und Vertreibung für Millionen Deutsche“.
Sie rief dazu auf, dass wir uns gemeinsam gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Muslimfeindlichkeit engagieren – und für die Demokratie, Weltoffenheit und eine humane und solidarische Gesellschaft, die die Menschenrechte aller achtet – überall auf der Welt. Zum Abschluss rief auch Josef Kaiser dazu auf, sich persönlich im Alltag mutig gegen rechtsradikale Äußerungen zu bekennen.
Ravensburg 10. Mai: Bei einem Empfang im Rathaus begrüßte Doris Hofer in Vertretung des Oberbürgermeisters die Gäste aus Orbassano. Sie freue sich über die lebendigen Kontakte zwischen AntifaschistInnen aus Ravensburg und Orbassano/Rivoli. Und sie hoffe, dass auch dieses Jahr eine Gruppe von Schülern an der Jugendaktivität EUROLYS am Colle del Lys teilnehmen könne. Anschließend nahm die Gruppe an einer italienischsprachigen Führung im Goldbacher Stollen in Überlingen teil. Zugleich führte der Historiker Oswald Burger 100 deutschsprachige BesucherInnen in durch den Stollen, in 1944/45 die Friedrichshafener Rüstungsindustrie bombensicher untergebracht werden sollte. Unter menschenverachtenden Bedingungen mussten Zwangsarbeiter 4 Kilometer Stollen ausheben. 97 Tote, die dort verstarben, sind auf dem KZ-Friedhof Birnau bestattet, wo am Nachmittag die alljährliche Gedenkfeier für die Opfer von Faschismus und Krieg stattfand.
Birnau 10. Mai: Frank Kappenberger vom DGB Ravensburg, begrüßte als Hauptrednerin bei der Gedenkfeier auf dem KZ-Friedhof Birnau Cornelia Kerth, Bundesvorsitzende der VVN-BdA. Diese zitierte zunächst Peter Gingold, der als jüdischer Kommunist in der französischen Résistance gekämpft und an der Befreiung von Paris teilgenommen hatte und danach als Frontbeauftragter des Nationalkomitees Freies Deutschland die Resistenza begleitete. Von ihm wüssten wir, mit welcher Freude in Italien nicht nur die Befreiung Italiens am 25. April 1945, sondern auch die Zerschlagung des Nazi-Regimes am 8. Mai gefeiert wurde: „Den 8. Mai erlebte ich in Turin. Das unaufhörliche Glockengeläut verkündete das Ende des Krieges, den Frieden. Dann war ich unter Hundertausenden jubelnden, tanzenden Menschen im Zentrum der Stadt: das Bella Ciao, Avanti Popolo, Bandiera rossa bis tief in die Nacht unter den Klängen der Mandolinen.“
Monate zuvor wurde Gingold Zeitzeuge der Erhebung der Pariser Bevölkerung, die ihre Stadt in den August-Tagen 1944 selbst befreit hat. „Dort war ich inmitten von zwei Millionen glückstrahlenden, jubelnden, sich gegenseitig umarmenden Menschen auf der Champs-Elysee, Paris libre, Paris frei! …. Es waren die erhabensten Erlebnisse in meinem Leben.“, zitierte sie ihn.
Anders als in Turin und Paris, so Kerth weiter, habe herrschte in deutschen Straßen am 8. Mai kein Jubel geherrscht. Deutschland war das Land der Täterinnen und Täter, die besiegt werden mussten, um dem millionenfachen Morden und den ungeheuren Menschheitsverbrechen der deutschen Faschisten ein Ende zu setzen. Für uns nachgeborene Antifaschistinnen und Antifaschisten sei der antifaschistische Widerstand das Wertvollste aus der deutschen Geschichte der letzten 100 Jahre: Allein die Tatsache, dass es ihn gegeben habe, erlaube uns, mit erhobenem Haupt durchs Leben zu gehen. Und das verpflichte uns, nicht zu vergessen und darauf zu bestehen, dass die Verantwortung für die Verbrechen Nazi- Deutschlands für diesen Staat auch bedeute: Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer – wenigstens Letzteres sei noch möglich und bleibe notwendig.
Kerth forderte ein umgehendes Verbot der AfD. Und: So selbstverständlich wie der Tag der Befreiung in Italien ein gesetzlicher Feiertag sei, müsse der 8. Mai auch in Deutschland endlich gesetzlicher Feiertag werden.
Historiker Oswald Burger berichtete, wie die ÜberlingerInnen den Tag der Befreiung 1945 konkret erlebten. In Grußworten positionierten sich Franco Voghera, Comitato Resistenza Colle del Lys Rivoli, und Mehmet Aksoyan, TAVIR Ravensburg, gegen Faschismus und gegen das Vergessen. Sie riefen auf, gemeinsam gegen Rassismus, Hass und Krieg vorzugehen und für Toleranz, Demokratie und Frieden zu kämpfen. Den feierlichen musikalischen Rahmen gestaltete wieder die Turiner Gruppe „La Desbandá“ mit antifaschistischen Liedern und Texten.
Ulm, 11. Mai: Vormittags besuchte die Delegation der ANPI Orbassano die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg, wo sie einen Kranz niederlegten und der ehemaligen Häftlinge des KZ Oberer Kuhberg und aller Opfer des Faschismus gedachten. OB Martin Ansbacher mahnte: „Vom Oberen Kuhberg aus wurden Menschen verfolgt, interniert, verschleppt. Zwischen 1933 und 1935 waren hier mehr als 600 Menschen inhaftiert – Geistliche, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, friedensengagierte Menschen. Menschen, die sich dem Regime widersetzten. … Es gibt viele, zu viele, die das Erinnern gegen das Vergessen ersetzen wollen. Die dieses Vergessen zu ihrer politischen Agenda gemacht haben. Als seien der Zweite Weltkrieg und die Nazi-Herrschaft Reliquien, die man auf den Dachboden oder in den Keller räumen kann, damit sie nicht mehr stören. Diesen falschen Patriotinnen und Patrioten und Verehrern des Faschismus sei gesagt: Wir in Ulm werden uns immer erinnern! Und den geistigen Nachkommen der Nationalsozialisten werden wir keinen Fußbreit unserer Stadt überlassen!“
Am Nachmittag legte die Delegation aus Italien noch weiße Rosen an der Stele der Widerstandsgruppe Weiße Rose auf dem Münsterplatz nieder.