Heuchlerische Staatsräson

29. Oktober 2024

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Der Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ hat keinen leichten Stand in unserem Land. Sprachverbote auf Kundgebungen, Kontosperrungen, Auflösung von Versammlungen – mit solchen Methoden musste sich der Verein in den letzten Monaten auseinandersetzen. In den Leitmedien war davon keine Rede; dass eine jüdische Organisation drangsaliert wird, passt nicht ins offizielle Bild. Lothar Letsche befragte Wieland Hoban, Vorsitzenden der „Jüdischen Stimme“ – einen 1978 in London geborenen, in Frankfurt/Main lebenden Komponisten und geisteswissenschaftlichen Übersetzer -, über Antisemitismus in Deutschland und den Krieg in Nahost.

„Nie wieder Antisemitismus“ gehört zur DNA der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, so wie „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ – seit sie 1947 gegründet wurde. Ist Deutschland heute ein Ort, wo jüdische Menschen sich sicher fühlen können?

Hoban: Die Frage, ob sich jüdische Menschen sicher fühlen können, darf nicht unabhängig von der Frage gestellt werden, ob gesellschaftliche Minderheiten allgemein das können. Rassismus und Diskriminierung betreffen verschiedene Menschengruppen, und es gibt in der deutschen Gesellschaft sowohl Antisemitismus als auch Anfeindungen gegen andere Gruppen, besonders Muslime. Keine Minderheit kann sich 100% sicher fühlen, und in der aktuellen gesellschaftlichen Stimmung ist die Bereitschaft zum offenen Hass größer als seit langem. Der Rechtsextremismus tritt selbstbewusst auf, aber auch die politische Mitte rückt immer mehr nach rechts. Sichtbar rassifizierte Menschen sind wesentlich gefährdeter als weiße Jüdinnen und Juden, die zusätzlich zur unauffälligen Hautfarbe meistens nicht sichtbar jüdisch sind. Deswegen sollten wir lieber fragen, ob Menschen, die anders aussehen als die Mehrheitsgesellschaft – ob wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer Kleidung – sicher sind. Ich bin als Jude, mit oder ohne Kippa, keinesfalls gefährdeter als eine Muslima mit Kopftuch oder ein eritreischer Einwanderer. Außerdem erlebe ich nicht die strukturelle Diskriminierung, der diese Menschen schon aufgrund ihres Namens ausgesetzt sind, etwa auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.

Welchen Formen des Antisemitismus begegnen Sie heute in Deutschland? Bei welchen Gelegenheiten äußert er sich?

Es gibt das, was man den beiläufigen Antisemitismus nennen könnte: diffuse Vorurteile über Juden, die sich manchmal in Gesprächen äußern, wenn einem Gegenüber die jüdische Identität nicht bekannt ist. Diese drehen sich meistens um Geld – Juden seien reich, geizig oder gierig (oder alle drei). Hier geht es weniger um eine kohärente Ideologie als um Stereotype, wie es sie über alle Bevölkerungsgruppen gibt, und solche Phänomene findet man in der Mitte der Gesellschaft, sowohl in nicht-migrantischen als auch migrantischen Milieus. Anders ist der rechtsextreme Antisemitismus, der sich klar und aggressiv gegen jüdische Menschen richtet. Da Muslime die größte ethnisch-religiöse Minderheit bilden, sind sie die wichtigste Zielscheibe der Nazis, aber Juden sind ihnen natürlich auch verhasst; außerdem betrachten Faschisten Juden manchmal als die Drahtzieher der Migration, die die Dominanz der „weißen Rasse“ gefährde, was sie besonders boshaft und schädlich mache.

Dann gibt es den Philosemitismus, der als pauschale „Liebe“ zu Juden eine künstliche Umkehrung des Antisemitismus vornimmt und letztlich auch als Form davon betrachtet werden muss, auch wenn das nicht seine Intention ist. In der deutschen Gesellschaft entsteht er aus dem nationalen Schuldgefühl und speist sich daraus, dass die meisten Menschen hier keine Jüdinnen oder Juden kennen und sie deswegen abstrakte Figuren und Projektionsflächen darstellen.

Das, was generell als muslimischer Antisemitismus bezeichnet wird, ist meistens Feindseligkeit gegenüber dem Staat Israel, nicht gegenüber jüdischen Menschen. Allerdings wird diese Grenze nicht immer klar gezogen, was vom deutschen Diskurs zusätzlich begünstigt wird. Je mehr der Staat Israel und jüdische Menschen in der Öffentlichkeit vermengt oder gleichgesetzt werden, desto eher kann eine verständliche Wut auf ersteren zu Ressentiments gegenüber letzteren führen. Dem muss durch Aufklärung und eine deutliche Trennung zwischen den beiden Kategorien entgegengewirkt werden.

Wie ist Ihre Wahrnehmung des Wirkens von Antisemitismus-Beauftragten und anderen Institutionen, die sich mit diesen Problemen beschäftigen?

Leider tun sich einige dieser Beauftragten mehr als Lobbyisten für Israel hervor, als dass sie wirklich etwas gegen Antisemitismus bewirken. Da im offiziellen deutschen Diskurs eine kritische Haltung zu Israel zurzeit als Hauptform des Antisemitismus dargestellt wird, führt diese Logik genau dorthin. Die meisten haben vor dem Amtsantritt schon einen starken Israel-Bezug, etwa der Hamburger Beauftragte Stefan Hensel, der davor Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Hamburg war. Der hessische Beauftragte, Uwe Becker, war sogar gleichzeitig Präsident der DIG, und hat in Frankfurt mit einem städtischen Anti-BDS-Beschluss eklatant gegen die Meinungsfreiheit verstoßen.

Wie nehmen andere Jüdinnen und Juden in Deutschland das wahr?

Es gibt natürlich unterschiedliche Wahrnehmungen. Manche haben eine ähnliche Haltung und finden es richtig, diese Perspektive einzunehmen. Es gibt auch weniger öffentliche Aufgaben der Beauftragten, die mehr mit dem gemeinschaftlichen Leben zu tun haben als mit markigen Aussagen in den Medien, und nicht alle Jüdinnen und Juden in Deutschland konzentrieren sich auf das Thema Israel. Insofern hängt die Wahrnehmung natürlich auch davon ab, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet.

Die meisten Überlebenden des Holocaust haben Deutschland nach 1945 verlassen. Wie viele jüdische Menschen leben heute hier? Woher kamen sie? Wie sind sie organisiert und repräsentiert? Wie findet der Meinungsaustausch statt?

Es gibt ca. 200.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland, davon ist weniger als die Hälfte in Gemeinden registriert. Die große Mehrheit kam ab Anfang der 1990er Jahre aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus Russland und der Ukraine, als sogenannte Kontingentflüchtlinge. Es gab ein gezieltes Programm der Bundesregierung, die jüdische Bevölkerung wieder zu vergrößern, die klein und überaltert war. In den letzten 20 Jahren sind außerdem ca. 20.000 Menschen aus Israel nach Deutschland eingewandert. Manche stammen von deutschen Familien ab und haben deswegen die deutsche Staatsbürgerschaft unter erleichterten Bedingungen erhalten.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird gemeinhin von der Mehrheitsgesellschaft für den Repräsentanten jüdischer Menschen gehalten, dabei wird seine Funktion aber meistens missverstanden. Er ist in erster Linie ein Dachverband, dem die jüdischen Gemeinden angehören (ähnlich wie bei den Kirchengemeinden und der Kirche). Sie müssen das, um ein Budget zu bekommen – aus dem Gesamtbudget, das der Zentralrat vom Staat bekommt. Falls sie sich nicht an die Richtlinien des Zentralrats halten, werden sie nicht aufgenommen und bekommen also kein Budget. Das ist natürlich auch ein Druckmittel, mit dem Kritik zum Schweigen gebracht werden kann.

Neben den religiösen Gemeinden gibt es Studierendenverbände und Sportvereine, Schulen, Museen und andere Institutionen in der Zivilgesellschaft. Leider gibt es weitgehend einen proisraelischen Konsens, zumindest offiziell, der auch für viele Gruppen identitätsstiftend ist – etwa für die JSUD (Jüdische Studierendenunion Deutschland) und ihre Ortsgruppen. Auch der Makkabi Sportverband, deren Vereine viele nichtjüdische Mitglieder haben, hat klare Verflechtungen mit Israel.

Wo ordnet sich Ihre Initiative in diesem Rahmen ein?

Nirgends. Unser Verein lehnt solche Verflechtungen natürlich ab, und der Zentralrat bekämpft uns – etwa, als er 2019 versucht hat, die Vergabe des Göttinger Friedenspreises an uns zu verhindern. Für den jüdischen Mainstream sind wir nicht akzeptabel, weil für uns die Unterstützung Israels, die zu seinen Grundsätzen gehört, nicht in Frage kommt. Wir stehen nicht zu einem Apartheidstaat, sondern zu den Menschen, die von ihm unterdrückt werden. Das entspricht unserem jüdischen Selbstverständnis, das auf Gerechtigkeit und Solidarität fußt, nicht auf Rassismus und Gewaltherrschaft.

Ist Israel heute ein Ort, wo jüdische Menschen sich sicher fühlen können?

Sicherheitsgefühl ist subjektiv, aber sicherer als in Europa ist es in Israel keineswegs. Das hat der 7. Oktober endgültig bewiesen, auch wenn es schon immer der Fall war, dass man dort eher gefährdet ist als hier aufgrund der anhaltenden Konflikt- und Unterdrückungssituation.

Wie bewerten Sie die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023?

Die israelische Regierung hat schon am 8. Oktober deutlich gemacht, dass sie einen Rachefeldzug ungeahnten Ausmaßes plant. Kein Wasser, kein Strom, „menschliche Tiere“ – die genozidale Sprache hat den Boden bereitet für die genozidalen Taten, die schnell folgten, und in diesen elf Monaten hat die Sprache nicht aufgehört, sie feuert an und rechtfertigt. Die Zerstörung der Hamas wird als Freibrief für die komplette Zerstörung der Gesellschaft benutzt – Wohngebiete, Schulen, Krankenhäuser, Moscheen, Kirchen und Kultureinrichtungen werden zerbombt, und es wird meistens unterstellt, diese Orte hätten als Hamas-Stützpunkte gedient. Oder es hätten sich Hamas-Mitglieder dort verschanzt, und der resultierende Kollateralschaden an toten Zivilisten liege daran, dass diese Männer sie als „menschliche Schutzschilde“ benutzen. Deswegen soll die Hamas verantwortlich sein, nicht Israel – und die westlichen Medien verbreiten diese krude Propaganda auch noch. Hilfsgüter werden kaum nach Gaza reingelassen, aber keiner nötigt Israel dazu, dies zu ändern. Westliche Länder wie Deutschland drücken ihr Bedauern über die humanitäre Situation aus, unternehmen aber gar nichts, um etwas daran zu ändern. Im Gegenteil: Deutschland liefert die ganze Zeit Waffen an Israel, ist nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant. Seit der Genozidklage Südafrikas gegen Israel steht Deutschland auch unter Druck, da der Staat offensichtlich Beihilfe leistet. Deutschland wollte Israel dann sofort als Drittpartei unterstützen, und sitzt somit tatsächlich mit Israel in einem Boot. Natürlich darf es dann nur die mildeste Kritik an Israel geben, da sich Deutschland sonst selbst beschuldigen müsste. In Gaza folgen täglich neue Massaker, neben über 40.000 identifizierten Toten gibt es noch weitere tausende unter den Trümmern oder in unidentifizierbarem Zustand. Hunger, Durst und Seuche gehen um, neuerdings etwa die Kinderlähmung, die man eigentlich eher als ausgerottete historische Krankheit kennt. Es ist das größte Verbrechen seit Jahrzehnten, wird aber vom Westen unterstützt und geduldet. Netanjahu hat kein Interesse an einem Ende des Kriegs, da er politisch angeschlagen ist und strafrechtlich verfolgt wird; der Ausnahmezustand hält diese Probleme aber fern, weswegen er keinen Waffenstillstand mit Geiselaustausch will und auch zur weiteren regionalen Eskalation bereit ist.

Im Nahen Osten herrscht heute eine Form von Krieg – mit hohem Eskalationspotenzial. Wie wäre er zu beenden?

Der erste Schritt wäre ein kompletter Waffenstillstand. Dieser hätte schon vor Monaten stattfinden können, und die Hamas hat mehrfach die verhandelten Bedingungen akzeptiert. Aber dann kamen immer neue Forderungen von israelischer Seite. Die israelischen Geiseln müssten gegen die vielen zu Unrecht eingesperrten palästinensischen Gefangenen – auch Geiseln –ausgetauscht werden. Der Wiederaufbau von Gaza und ein Ende der gesamten Besatzung müssten die nächsten Schritte sein – was allerdings voraussetzen würde, dass der Westen nicht mehr bedingungslos zu Israel steht. Die Kriegsverbrechen müssten bestraft werden, usw. – aber westliche Kriegsverbrecher, zu denen auch die israelischen zählen, werden fast nie zur Rechenschaft gezogen. Falls Netanjahu irgendwann hinter Gittern landet, wird es lediglich wegen Korruption sein, nicht Genozid.

Gerechter Frieden im Nahen Osten – wie stellen Sie sich ihn vor? Wie müsste eine Politik aussehen, in Vergangenheit und Gegenwart, die ihn erreicht?

Gerechter Frieden bedeutet Dekolonisierung. Das Ende der Besatzung, das Ende der pseudodemokratischen Apartheid innerhalb der Grünen Linie, das Rückkehrrecht für alle Palästinenser:innen. Die westliche Politik müsste sich komplett ändern: nicht mehr vom Anspruch geopolitischer Herrschaft geleitet, sondern vom Primat der Menschenrechte und Demokratie. Die palästinensische Seite zur Selbstunterwerfung zu nötigen, wie in den 1990er Jahren mit den Osloer Abkommen, geht nicht. Ohne Gleichberechtigung kann es keinen Frieden geben. Da die israelische Politik diese Gleichberechtigung mehrheitlich nicht will, müsste die Unterstützung aufhören. Keine Waffen, kein Geld, bis es Freiheit und Gerechtigkeit gibt. Das klingt vielleicht unrealistisch und unerreichbar, muss aber letztlich unser Anspruch sein.

In der Weltgemeinschaft, aber auch in Israel, stößt die Politik der israelischen Regierung auf starke Kritik. Sind es Antisemiten, die Netanjahu unverhältnismäßiges Vorgehen, Völkermord und Apartheid vorwerfen?

Nein, diese Vorwürfe lassen sich zu 100% völkerrechtlich und ethisch begründen.

Welche Forderungen richten Sie an die deutsche Politik?

Zuallererst: keine Waffen mehr an Israel zu liefern. Menschenrechte ohne Doppelstandards zu verteidigen; was in der Ukraine nicht hinnehmbar ist, ist es auch nicht in Palästina – das bedeutet auch, politischen Druck auf Israel auszuüben. Den politischen Diskurs in Deutschland nicht einzuschränken, um Kritik an der israelischen Gewaltherrschaft zu ersticken. Nicht diejenigen zu verfolgen, die Unrecht anprangern und gleiche Rechte für alle fordern. Das wäre schon mal ein Anfang.

Wir bedanken uns herzlich für das Gespräch!