80 Jahre nach der Befreiung: Wie entnazifiziert ist die Bundesrepublik?
11. Februar 2025
AN25-1, Entnazifizierung, Frieden

Die Überlebenden der KZ, die zurückkehrenden Widerstandskämpfer*innen und andere Gegner des NS-Regimes wollten 1945 nach der Befreiung vom Faschismus an der Macht ein neues demokratisches und friedliches Deutschland aufbauen, eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Neuordnung und den konsequenten Bruch mit den alten Eliten, mit den Strukturen und dem Personal des NS-Faschismus. Das Potsdamer Abkommen setzte dafür den Rahmen, der auch in einigen Gesetzen und Länderverfassungen zum Ausdruck kam (Paritätische Mitbestimmung, Enteignungsmöglichkeiten, Sozialstaatspostulat). Weitergehende grundlegende Veränderungen wurden jedoch bereits von den Besatzungsmächten rasch gestoppt, eine konsequente Entnazifizierung unterblieb.
Netzwerke von alten Nazis und ihre Unterstützer sorgten für personelle Kontinuität beim Aufbau der Bundesrepublik und bestimmten wesentlich die politische Entwicklung. Heribert Prantl schrieb dazu: „Die alten Nazis waren in der jungen Bundesrepublik überall: Sie waren in der Justiz, in der Verwaltung, in den Ministerien, in den Universitäten; der Verfassungsschutz war so braun, dass es einen noch heute schüttelt… Sie prägten die junge Republik.“ (Süddeutsche 22.11.2012)
Beispielhaft steht dafür Hans Globke, der als Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze den Holocaust mit vorbereitet hatte. Adenauer machte ihn zum Chef des Bundeskanzleramtes, er kontrollierte den BND und prägte bis 1963 die Politik der Bundesrepublik wesentlich. Akten zu seiner Nazi-Vergangenheit wurden geheim gehalten und erst nach seinem Tod 1973 wurde dessen Nazi-Vergangenheit in der Öffentlichkeit bekannt.
Mit dem Kalten Krieg wurde der Antikommunismus wie schon im NS-Staat wieder zur Staatsdoktrin. Rechtsextremistische Organisationen waren willkommene Kräfte bei der Bekämpfung von sozialistischen und kommunistischen Bestrebungen und fanden staatliche Anerkennung und Unterstützung. So etwa der Bund Deutscher Jugend (BDJ), der 1950 auf Initiative des CIA gegründet wurde und gegen die Anerkennung der deutschen Kapitulation und der Grenzen von 1945 mobilisierte. Dessen Mitglieder wurden militärisch ausgebildet. Der BDJ führte eine „schwarze Liste“ mit Menschen, die im Fall einer sowjetischen Invasion „kaltgestellt“ werden sollten und bildete Mitglieder militärisch aus.
In der Partei „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) waren vorwiegend Flüchtlinge organisiert. Die meisten ihrer Bundestagsabgeordneten waren ehemalige NSDAP-Mitglieder, darunter auch SS-Mitglieder. Theodor Oberländer wurde unter Adenauer BHE-Vertriebenenminister. Auch er war NSDAP-Mitglied und schon 1923 am gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch beteiligt. Später lief er mit weiteren Abgeordneten zur CDU über.
Alte Nazis fanden in den konservativen Parteien, vor allem bei der FDP und CDU eine neue Heimat und erklärten sich zur Mitte der Gesellschaft. Aufkommende Kritik an der Rehabilitierung alter Nazis wies Konrad Adenauer 1952 mit den Worten zurück: „Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat.“
In dem zunehmend restaurativen und autoritären Klima der jungen Bundesrepublik überdauerte die Nazi-Ideologie, rechte und konservative Parteien konnten für Jahrzehnte ihre Macht sichern und die Politik der Bundesrepublik prägen, während linke Kräfte rasch zurückgedrängt, ausgegrenzt und kriminalisiert wurden.
Ehemalige NS-Juristen haben am Verbot der KPD mitgewirkt. Viele Widerstandskämpfer*innen, die in der KPD organisiert waren, erlitten erneute Verfolgung und Verurteilung. Ein Verbot der VVN scheiterte nur daran, dass während des Prozesses die Nazi-Vergangenheit des Richters aufgedeckt wurde.
Die Notstandsgesetze, mit denen das Grundgesetz wesentlich eingeschränkt wurde und die im Fall von schweren Krisen und eines „Inneren Notstands“ viele Grundrechte außer Kraft setzen können, wurden von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in der Ministerialbürokratie mit ausgearbeitet.
Verhinderte Entnazifizierung, neue und alte Nazis nach 1945
In den 50er und 60er Jahren verhinderten alte Naziseilschaften und Regierung lange Zeit die Aufarbeitung des Naziregimes und eine Bestrafung der faschistischen Verbrecher: Sie wollten unter die NS-Vergangenheit „einen Schlussstrich ziehen“. Kriegsverbrecher wurden wie Helden geehrt. Die Regierung schickte Weihnachtspakete an im Ausland verurteilte Kriegsverbrecher, die wie z.B. Herbert Kappler wegen grausamer Morde an Zivilisten in Italien in Haft waren.
Erst durch das hartnäckige Wirken von Fritz Bauer und anderen Antifaschisten kam eine langsame Aufarbeitung des Faschismus in Gang und wurde dann auch der Auschwitz-Prozess möglich. Mit den Protesten der 68er-Bewegung wurde endlich eine breitere gesellschaftliche Diskussion über die Nazi-Vergangenheit eingeleitet.
In den 70er und 80er Jahren organisierten Neonazis und terroristische Gruppen wie die Aktion Widerstand Sprengstoffanschläge und legten Waffenlager. Rudi Dutschke wurde von einem Neonazi angeschossen und die Wehrsportgruppe Hoffmann war für Überfälle auf Antifaschisten, die Morde an Shlomo Lewin und Fria Poetschke und das Oktoberfestattentat im September 1980 mit 13 Todesopfern verantwortlich. Lange wurde versucht, die rechtsextremistischen Hintergründe dieser Terroranschläge zu verschweigen. Auch auf der politischen Ebene gelang als den neuen/alten Faschisten wieder Fuß zu fassen. In den 80er Jahren erzielten die rechtsextremen Republikaner und die neofaschistische NPD bei Wahlen bis zu 10% der Stimmen und zogen in Fraktionsstärke in mehrere Landtage bzw. in den Bundestag ein.
Zu Beginn der 90er Jahre breitete sich eine Welle von rassistischen Stimmungen gegen Geflüchtete aus, die von alten und neuen Nazis geschürt wurde und zu regelrechten Pogromen und Morden wie in Rostock, Mölln und Solingen führte.
Seit den 90er Jahren erschütterten der brutale Mord an Walter Lübcke und die Mordserie des NSU und die immer noch nicht vollständig aufgeklärten Verwicklungen des Verfassungsschutzes das Vertrauen in die demokratischen Grundfesten der Bundesrepublik. Mit den Morden von Hanau und den erst kürzlich aufgedeckten Netzwerken von Reichsbürgern, die jetzt wegen Vorbereitung eines Staatsstreichs vor Gericht stehen, setzt sich die blutige Spur von rechtsterroristischen Verbrechen bis heute fort.
Schleppende Aufarbeitung und neuer Rechtsruck
Wie konnte es sein, dass Rechter Terror in der Bundesrepublik lange Jahre von Regierung und Medien verdrängt und verharmlost wurde, auf Einzeltäter abgeschoben und terroristische Strukturen geleugnet wurden? Mussten viele Menschen sterben, weil der Staat auf dem rechten Auge blind ist?
Nach Einschätzung des Rechtsterrorismus Forschers Gideon Botsch ist dafür das bürgerlich-konservative Milieu verantwortlich, das sich nicht ausreichend damit auseinandersetzt. Er meint, dass Politiker*innen aus dem eher konservativen Spektrum ihre ideologischen Scheuklappen nie abgelegt haben: „Bis heute wird von diesen Kreisen konsequent verweigert, ob möglicherweise die eigene Ausländerpolitik, die eigene antikommunistische Orientierung oder auch die Stellungnahmen des konservativen Spektrums in Fragen der Vergangenheitspolitik hier zu einer Radikalisierung beigetragen haben könnten.“ (SWR 17.2.2023)
Hinzu kommt die staatliche Politik, die seit Gründung der Bundesrepublik mit dem Abbau demokratischer Rechte und Gesetzesverschärfungen im Rahmen der Wiederbewaffnung, der Notstandsgesetzgebung und der Berufsverbote den Handlungsspielraum linker und antifaschistischer Kräfte immer weiter einengte. Die in den letzten Jahren sukzessiv verschärften Polizeigesetze treffen in erster Linie linke Aktivisten und deren Organisationen, die Einschränkungen des Asylrechts und die verschärfte Hetze gegen Flüchtlinge, die zu Sündenböcken für alle Krisen, soziale Spaltung und verfehlte Regierungspolitik erklärt werden, befeuern rechten Diskurs und verschaffen der AfD ungebremsten Zulauf, wachsende Wahlerfolge und stärken deren faschistischen Flügel.
Opposition gegen den erneuten Rechtsruck in der Mitte der Gesellschaft ist kaum mehr wahrnehmbar. Selbst die Grünen beteiligen sich aktiv an der ausufernden Debatte um Sicherheitspolitik und forderten im September 2024: „Die Zeitenwende auch in der Innenpolitik endlich entschlossen umsetzen!“ In ihrem gleichnamigen Papier fordert die grüne Bundestagsfraktion ein Sondervermögen für die Innere Sicherheit, neue Stellen in Polizei und Geheimdiensten, die auch verdeckt in sozialen Netzwerken arbeiten sollen und schnellere und konsequente Abschiebungen.
Den bisherigen Höhepunkt dieser weiteren Verschiebung nach rechts stellt die Verabschiedung des Sicherheitspaktes dar, mit verschärften Möglichkeiten zur Abschiebung von Asylbewerbern ohne Bleiberecht, deren Ausschluss aus staatlichen Leistungen sowie erweiterter Befugnisse und Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden durch automatischen Datenabgleich. Der angebliche Kampf für unsere werteorientierte Gesellschaft, für die Sicherheit der Bevölkerung wird zum Kampf gegen Geflüchtete und beseitigt Schritt für Schritt die demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft.
Der Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg am 8. Mai 2025 ist nicht nur ein Tag des Gedenkens an Verfolgung und Widerstand. Wir nehmen das Vermächtnis der Überlebenden von Buchenwald auf und führen den Kampf für die Beseitigung aller Wurzeln des Faschismus weiter. Deshalb muss der Kampf gegen rechts, gegen alte und neue Nazis, zusammen mit dem Kampf für eine friedliche, soziale und solidarische Gesellschaft geführt werden.