70. Jahrestag der Befreiung in Tübingen Rede von Lothar Letsche

geschrieben von Lothar Letsche

13. Mai 2015

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Lothar Letsche
VVN-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Baden-Württemberg e.V.
Kreisvereinigung Tübingen-Mössingen

Ansprache am 8. Mai 2015
zum Gedenken an den 70. Jahrestag der Befreiung in Tübingen

gehalten auf dem Tübinger Holzmarkt um 15 Uhr
In Tübingen war der 2. Weltkrieg schon am 19. April 1945 zu Ende. Da kam die französische Armee. Die Stadt hatte den 2. Weltkrieg fast unzerstört überstanden.

In jenen letzten Apriltagen 1945 mussten die Gefangenen des Zuchthauses in Ludwigsburg im Hof antreten. Unter ihnen viele politische Häftlinge. Nach einem Fußmarsch hatten sie Güterwagen zu besteigen, die sie in das Konzentrationslager Mauthausen in Österreich bringen sollten. In Donauwörth kam der Zug zum Stehen. Die Eisenbahnbrücke war am 19. April von alliierten Tieffliegern zerstört worden. Die Häftlinge wurden in das überfüllte Zuchthaus Kaisheim gebracht. Das wurde von der anrückenden amerikanischen Armee zunächst mit einer SS-Kaserne verwechselt und beschossen. Die Wachmannschaft türmte. Nach Einnahme des Ortes und des Gefängnisses wurden die politischen Häftlinge nach und nach von der US-Armee entlassen.

Das war die Geschichte der Befreiung meines Vaters Curt Letsche. Er hat sie in Romanen geschildert. Ich bin also wortwörtlich ein Kind der Befreiung.

Aber wir alle als heute Lebende verdanken die Grundlagen eines Lebens in Frieden, Freiheit und Vielfalt den Siegern des 8. Mai. Er sollte auch in Deutschland ein offizieller Feiertag sein.

Es schmälert niemandes Beitrag im Kampf um diese Befreiung, wenn ich den der Sowjetunion hervorhebe. Sie verlor 27 Millionen Menschen. Auch heute heißt eine U-Bahn-Station mitten in Paris, „Stalingrad“. Dort wurde der Kriegsmaschine der deutschen Faschisten das Genick gebrochen. Die Franzosen wissen sehr gut, eine zweite Front, die ab dem 6. Juni 1944 ihr Land befreite, hätte es nicht gegeben, wenn sich die Rote Armee nicht schon auf die deutsche Grenze zu bewegt hätte.

Das muss man heute ins Gedächtnis rufen, denn Geschichtsklitterungen haben Konjunktur.

Hitlers Außenpolitik und Hilfstruppen hatten sich Österreich einverleibt und mit dem „Münchner Abkommen“ vom 30.09.1938 die Tschechoslowakei zerstückelt und dann ihre staatliche Existenz ausgelöscht. Der Überfall auf Polen am 1.September 1939 konnte niemand verwundern. Die Beistandszusagen der Westmächte nützten den Polen nichts. Erst 1940 folgten ihren Kriegserklärungen tatsächliche Kriegshandlungen.

Hätte das verhindert werden können? Dazu Winston Churchill, britischer Premier von 1940 bis 1945. Ein „Bündnis von England, Frankreich und Russland hätte Deutschland im Jahr 1939 mit größer Beunruhigung erfüllt, und niemand vermag zu beweisen, dass sich der Krieg nicht sogar damals hätte verhüten lassen. …“ Entsprechende Initiativen der Sowjetunion gab es, bestätigt Churchill, und schreibt in seinen Memoiren weiter: „Wenn Chamberlain zum Beispiel bei Empfang des russischen Angebots geantwortet hätte: Ja, wir drei wollen uns zusammentun und Hitler das Genick brechen, oder mit anderem Worten dieses Inhalts, so hätte das [britische] Parlament zugestimmt, Stalin wäre zufrieden gewesen, und die Geschichte hätte vielleicht einen anderen Lauf genommen. Wenigstens hätte sie keinen schlimmeren nehmen können. Stattdessen folgte langes Schweigen, während halbe Maßnahmen und wohlabgewogene Kompromisse vorbereitet wurden.“

So lief das. Erst in letzter Minute wurde von der sowjetischen Führung Notbremse gezogen und am 23. August 1939 ein deutsch-sowjetischer Nichtangriffsvertrag unterzeichnet, den die Nazis vorgeschlagen hatten. Wenn das heute von manchen als eine Art Komplott zur Vorbereitung des 2. Weltkriegs hingestellt wird, stimmt es einfach nicht.

Nichts schafft die Tatsache aus der Welt, dass dieser verheerendste aller bisherigen Kriege von deutschem Boden ausging.

Im Grundgesetz gibt es, bis heute gültig, den Artikel 139: „Die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“ Sie gelten also weiter.

Uns vom „Nazismus und Militarismus“ zu befreien – immer in einem Atemzug genannt – das war das Ziel der Befreier! Schon im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 nachzulesen.

Eine Kommission der amerikanischen Militärregierung hielt 1947 fest:
„Die Deutsche Bank benutzte ihre gewaltige Macht, um bei der Durchführung der verbrecherischen Politik des Naziregimes auf wirtschaftlichem Gebiet mitzuwirken“.
Und da steht auch: „Es wird empfohlen, dass 1. die Deutsche Bank liquidiert wird; 2. die verantworlichen Mitarbeiter der Deutschen Bank angeklagt und als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden; 3. die leitenden Mitarbeiter der Deutschen Bank von der Übernahme wichtiger oder verantwortlicher Positionen im wirtschaftlichen und politischen Leben Deutschlands ausgeschlossen werden.“

Also, wenn beispielsweise Griechenland – nicht erst heute – die Frage der von den Nazis erpressten Zwangsanleihe und überhaupt von Reparationen für die Nazi-Besatzung endlich anständig geregelt bekommen will, sollen sie nicht so arrogant tun, als ginge das unsere heutige Regierung und die heutigen Banken nichts an!

Im sogenannten „2 + 4-Vertrag“ von 1990 wird auch bekräftigt, dass „von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird.“

Wie oft ist seitdem dagegen verstoßen worden! Brandgefährlich ist die Situation in der Ukraine, die in EU- und NATO-Strategien einbezogen wird. Die Bundesregierung steht in der historischen Verantwortung, eine neue Entspannungspolitik mit Russland auf den Weg zu bringen, in der die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten Berücksichtigung finden.

Nazi-Kollaborateure wie Stepan Bandera dürfen nicht zu verdienten Freiheitshelden umgelogen werden. Faschisten in der Regierung und militärischen Strukturen der Ukraine können keine Bündnispartner sein.

Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!

Gruppierungen wie die NPD gehören aufgelöst!

Der „NSU“-Untersuchungsausschuss des Landtags muss die Verstrickungen zwischen mordenden und Hassparolen verbreitenden Nazistrukturen, Polizeikreisen und Geheimdiensten konsequent aufarbeiten.

Und das Feindbild muss stimmen!

Wenn Antifaschistinnen und Antifaschisten und kapitalismuskritische junge Menschen und ihre Entschlossenheit, Nazis nie mehr die Straße zu überlassen, mit diesen auf eine Stufe gestellt werden, dann hat man das Problem nicht begriffen!

Auch wenn Nazis sich als Initiativen gegen Flüchtlingsunterkünfte oder „Islamismus“ tarnen, ist ihr Ziel doch immer das gleiche.

Zum Schluss noch eine aktuelle Anmerkung.

Tübingen besaß bis vor vier Wochen einen intakten, als geschütztes Denkmal ausgewiesenen authentischen Ort der Naziverfolgung – den ehemaligen Güterbahnhof, wo im 2. Weltkrieg sowjetische Zwangsarbeiter schuften mussten. Die Firma Aurelis hat mit Zustimmung der Denkmalschutzbehörden mit dem teilweisen Abriss begonnen. Wir haben dagegen protestiert.

Die offene Ruine, jetzt in städtischem Besitz, darf nicht verkommen! Für eine Nutzung als Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus gibt es bisher keinerlei bindende Festlegung. Das wäre aber das Mindeste, was jetzt von Seiten der Stadt kommen müsste! Mit einem klaren Zeitplan, wann das Restgebäude dafür hergerichtet wird.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.