76 Jahre alt – hochaktuell – lesenswert – bedenkenswert – übertragbar

geschrieben von Gudrun Greth

29. Oktober 2024

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Quelle: Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg EL 51/1 I Bü 5818

76 Jahre alt, hochaktuell, lesenswert, bedenkenswert, übertragbar… ist der Vortrag, den der Stuttgarter Widerstandskämpfer Eugen Waller (30. 1.1908 – 10.2.1975) am 30. Januar 1948 um 19:30 Uhr über Radio Stuttgart sprach.

Die Worte, mit denen Eugen Waller an seinem 40. Geburtstag an die Machtübertragung an Hitler am 30. Januar 1933 erinnert, sind geprägt von seiner Erfahrung im kommunistischen Widerstand in Stuttgart, von seiner politisch motivierten Entlassung beim Südfunk nach dem Kabelattentat, von seiner neunjährigen Lagerhaft in Welzheim, Dachau, Buchenwald und Mittelbau-Dora. Zudem von seinem Engagement im Arbeitsausschuss Heslach und der Rückholung der überlebenden Juden aus Theresienstadt, von seiner Arbeit als Leiter der KZ-Prüfstelle der Stuttgarter Kriminalpolizei, von seinem Engagement in den Lagergemeinschaften und bei der VVN.

Eugen Waller legt mit seinem Vortrag eindrücklich die Verantwortung für das „NIE WIEDER FASCHISMUS, NIE WIEDER KRIEG“ in die Hände derjenigen, die für die Erziehung der Jugend zuständig sind. Er ermöglicht uns auch heute das Lernen aus der Geschichte:

„Der 30. Januar 1933 – eine Lehre für die Erziehung unserer Jugend“

Es ist Aufgabe jeder Erziehung, den Menschen zu gewissenhaftem Denken zu veranlassen und hier muss als höchster Grundsatz in Religion und Weltanschauung hervorgehoben werden !die Nächstenliebe“. „Was du nicht willst das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Das ist das Grundsätzliche, was jeder Erzieher seinem Zögling täglich einhämmern muss, und gleichzeitig damit muss der Mensch zum intensiven, kritischen Denken angeregt werden. Denn nur so können wir in den Stand gesetzt werden, das uns nach christlichen Theorien von Gott oder nach weltlichen von der Natur gegebenen Gewissen, wonach wir Gutes vom Bösen zu unterscheiden vermögen, richtig zu prüfen und uns mit unserem ganzen Willen für das als gut erkannte einzusetzen.

Nicht das Auswendiglernen des Katechismus oder irgendwelcher Parteidoktrinen ist Erziehung nicht „Du sollst nicht“, sondern „warum sollst du nicht.“ Es gibt nur einen Grundsatz: Du sollst mit deinem Gewissen prüfen, was du als gut oder schlecht empfindest. Und wenn du Argumente und Gegenargumente gründlich geprüft hast – aber gründlich – dann gehe konsequent deinen Weg bis du deinem Ziel am nächsten kommst, oder durch die Ereignisse einen Irrtum in deiner Entscheidung entdeckst, dann aber musst du auch den Mut aufbringen, an der Wiedergutmachung Deiner entdeckten Fehler ebenso konsequent mitzuarbeiten.

Jede Tat die wir uns in unserem Leben vollbringen, muss von gutem Glauben und Willen getragen sein. Dadurch wird sie sich immer am Ende zum Nutzen der menschlichen Gesellschaft auswirken.

Diese Worte erschienen mir unvermeidlich, wenn ich des 30. Januar 1933, des schwärzesten Tages in der Geschichte des deutschen Volkes gedenke und mich an unsere Jugend wende. Mit keiner Doktrin soll die Jugend belastet werden. Nicht zwingen, sondern gewinnen müssen wir die Jugend.

Das Jahr 1932 ließ die politischen Gegensätze innerhalb Deutschlands hart aufeinanderprallen. Noch bestand die Weimarer Republik, welche nur ihre Form nach noch eine Demokratie war. Große Kreise der werktätigen Bevölkerung waren durch die Arbeitslosigkeit der Verelendung und Verzweiflung preisgegeben, während auf der anderen Seite, durch die Konzentration des Reichtums auf eine verhältnismäßig kleine Schicht, ein krasser Gegensatz zum Volksganzen bestand. … Die Ansammlung und Konzentration von Kapital in wenigen Händen vernichtete den Mittelstand und das Handwerk.

So war der Boden für die Machtübernahme des Nationalsozialismus vorbereitet. Die Geldmittel der deutschen Schwerindustrie flossen immer reichlicher in die Kassen der NSDAP. Mit Hilfe dieser Mittel wurde der Mob in braune Uniformen gesteckt und auf die Straße geschickt.

Die Erziehung der schulpflichtigen Jugend wurde den Lehrern aus den Händen genommen und der Hitlerjugend übertragen. Jede Straßenecke war beschmiert mit der Parole: „Muttersöhnchen bleiben zuhause, zackige Jungens gehen zur HJ.“ Die „zackigen Jungs“ wurden dann auf den Sportplätzen für ihre zukünftige Bestimmung als willenlose Instrumente für den narzisstischen Krieg gedrillt. Wer nicht mit Blindheit geschlagen war, musste erkennen in welches Verderben unsere deutsche Jugend hineingeführt werden sollte.

Nun wurden auf einmal auch Arbeitsprogramme aufgestellt;  es begann eine Konjunktur der Wiesenentwässerung, der Anlage von Reichsautobahnen, Sportplätze wurden angelegt, Schiffe und Sanatorien für die Erholung der deutschen Arbeiter sollten gebaut werden. Jeder Arbeiter sollte in die Lage versetzt werden, sich einen eigenen Wagen anzuschaffen.

Ein großer Teil unseres Volkes ließ sich von diesen Versprechen blenden. Man fand kein Verständnis dafür, dass junge Menschen, Lehrlinge kaum 14 Jahre alt, in den Gewerbeschulen und Lehrwerkstätten Flugblätter verbreiteten und Gruppen bildeten, die zum Widerstand gegen Hitler aufriefen. Ebenso wenig hatten diese Geblendeten Verständnis für die immer wieder auf Baustellen und in den Betrieben aufflackernde Opposition gegen Hitler. All zu leicht verfielen sie der Propaganda des Goebbelschen Lügenministeriums, wonach sämtliche Gegner des Nationalsozialismus als Bolschewisten und Judenknechte bezeichnet wurden, ganz gleich, ob sich der Gegner nun an der Drehbank, hinter dem Pflug, im Kloster oder auf dem Katheter von deutschen Hochschulen befand.

Was aber hat der 30. Januar 1933 für den gründlichen Beobachter in Wirklichkeit gezeigt?

Die Wiesenentwässerung bewirkte die Steigerung der landwirtschaftlichen Produkte unter ungleich höherem Einsatz von Arbeitskräften, um Devisen für den Einkauf von Rohstoffen für die Vorbereitung des Krieges freizubekommen. Die Anlage von Sportplätzen führte schließlich zu Flugplätzen für schwere Bomber, die später ihre Last auf ganz Europa abwerfen sollten. Die Reichsautobahnen wurden zu strategischen Heerstraßen, auf denen ein großer Teil unserer deutschen Jugend in den Tod gefahren wurde. Die KdF-Dampf verbrachten unsere Jugend nach Afrika, um sie dort verbluten zu lassen, oder, noch bevor sie dort eintrafen, im Mittelmeer versenkt zu werden. Aus den Sanatorien wurden Lazarette. Aus den Seebädern an der Ostsee, welche zur Erholung des deutschen Volkes angelegt werden sollten, gingen die Versuchsstätten für V-Waffen wie Peenemünde hervor, in denen Tausende von Menschen aus den Konzentrationslagern in völliger Abgeschlossenheit von der Außenwelt, zum Teil unterirdisch, unter den menschenunwürdigsten Verhältnissen arbeiten und endlich zugrunde gehen mussten.

Diese Untaten, welche alle im Namen unseres Volkes von einer verbrecherischen Regierung befohlen und begangen wurden, konnten nur geschehen, weil unser Volk nicht zum objektiven, intensiven Denken erzogen wurde. Heute aber bekommen wir für unsere Nachlässigkeit die Zinsen in Form von Wiedergutmachungsforderungen aus der ganzen Welt vorgelegt.

Die Geschichte aber hat bewiesen, dass jene Schüler, welche in der Stuttgarter Gewerbeschule Flugblätter gegen Hitler verbreiteten, junge Menschen gewesen sind, die durch intensives, kritisches Denken in der Lage waren, ihre Umwelt richtig zu erkennen und daraus die Schlüsse zu ziehen, welche leider heute so grausam in Erfüllung gegangen sind.

Jene aber, die als Tagdiebe, Verbrecher und Feiglinge bezeichnet wurden, weil sie ihre warnende Stimme gegen den Nazismus erhoben, jene die es wagten, den Kampf gegen den faschistischen Terror und den Krieg aufzunehmen und diesen Kampf oftmals mit ihrem Leben bezahlten, sie müssen heute als die wirklichen Helden unseres Volkes erkannt und geehrt werden. Wenn es im deutschen Volke jemals einen Heroismus gab, so waren es die Kämpfer der deutschen Widerstandsbewegung, die ihn bewiesen haben.

Wer aber an diesem Kampf teilnahm, der konnte es nur dadurch, dass er sich nicht damit begnügte, das von seinen Lehrern übernommene, oftmals recht mangelhafte Wissen, einfach als unabänderlich zu übernehmen. Menschen aber mit kritischem Denken waren für die nazistische Irrlehre gefährlich. Während der Nazismus mit seinen Abenteuern, Ehrendolchen und Kriegsspielen die Deutsche Jugend für den Marsch in den Tod, einzig zum Wohle der Rüstungsindustriellen vorbereitete, gab es auch in Deutschland, selbst in den trügerischen Glanzzeiten, junge Menschen, die für das Ziel der menschlichen Freiheit, nur dem Zwange ihres Gewissens unterworfen, in echtem Heroismus alle Kraft einsetzten, um unserem Volk die teuflische Fratze aufzudecken, welche hinter der Friedensmaske des Nationalsozialismus verborgen war.

Als Jugendlicher aus einer Generation, die 1933 und danach am Kampfe gegen Hitler und seine Hintermänner teilgenommen hat, fordere ich aber unsere heutige Jugend auf: Werdet nie wieder das Opfer von Schlagworten, mögen sie auch noch so verlockend klingen! Sucht immer den Dingen auf den Grund zu gehen! Was euch als heilig vorgesetzt wird, prüft es, damit sich nicht der Teufel dahinter verstecken kann. Seid gegen jeden, der sich keine Zeit nimmt Eure Meinung anzuhören, auf der Hut.

Auch unsere heutige Not dürfen wir nicht so nicht als unabänderlich hinnehmen und, wenn wir sie beseitigen wollen, ist es notwendig, dass wir zunächst die Ursache untersuchen. Es wäre falsch, Mächte um Hilfe anzurufen, die außerhalb der deutschen Grenzen liegen, wenn wir nicht zuvor unseren ganzen Willen und unsere ganzen ideellen und materiellen Kräfte einsetzen, um in Deutschland Voraussetzungen zu schaffen, die den Einfluss derjenigen, welche dem Nationalsozialismus zur Macht verhalfen, ein für alle Mal bricht.

Dies kann aber durch keine noch so gute Parteidoktrin bewerkstelligt werden. Dazu ist nur ein Volk in der Lage, das seine Jugend zu selbstständigem und kritischen Denken erzieht. Das kann aber nur geschehen, indem man der Jugend These und Antithese unverfälscht gegenüberstellt und sie selbst die Wahrheit finden lässt.

Mit einer solchen Jugend wird aber ein Fackelzug in die Nacht wie der vom 30. Januar 1933 unter dem Triumph der Lüge als „Sieg des Glaubens“ bezeichnet, sich nicht wiederholen können, denn dann wird die Vernunft siegen und die Welt wird erkennen, dass es ein Deutschland gibt, das bereit ist, seine ganze Kraft für den Sieg des Friedens einzusetzen.“