Comeback der Wehrpflicht?
29. Oktober 2024
Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) hat eine neue Studie „Die Neue Wehrpflicht – (K)ein Dienst für Deutschland“ von Robin Welsch zur aktuellen Wehrpflichtdebatte veröffentlicht. In der Zusammenfassung der Studie heißt es unter anderem:
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) wurden im Mai 2024 Modelle für einen “Neuen Wehrdienst” vorgelegt. Zur Auswahl standen drei verschiedene Konzepte: Erstens könnten im Rahmen einer „Optimierung“ des freiwilligen Wehrdienstes Personen mit Erreichen des 18. Lebensjahres kontaktiert und per Online-Fragebogen zu ihrer Eignung, Motivation und Einstellung zum Wehrdienst befragt werden. Zweitens kommt eine „grundgesetzkonforme Auswahlwehrpflicht“ in Betracht, die eine Wehrpflicht für Männer und einen freiwilligen Dienst für Frauen vorsieht. Die dritte Option verknüpft eine „geschlechtsneutrale Wehrpflicht“, wie sie beispielsweise in Schweden seit 2017 gilt, mit einer „allgemeinen Dienstpflicht“. Die im Juni 2024 verkündete Entscheidung läuft im Wesentlichen auf die erste Option hinaus: Alle Kandidat*innen eines Jahrgangs werden mit einem Fragebogen angeschrieben, den Männer beantworten müssen. Diejenigen, die sich bereit zum Wehrdienst erklären, werden anschließend gemustert und zunächst 5.000 für eine Dienstzeit zwischen sechs bis 23 Monaten ausgewählt (…)
Auch wenn die Zielgrößen ansteigen sollen ist es unwahrscheinlich, dass die Bundeswehr ihre Personalprobleme mit dem neuen Wehrdienst beheben kann. Eine weitreichende Re-Aktivierung der Wehrpflicht erscheint deshalb immer noch wahrscheinlich. In Politik und Wirtschaft gibt es Positionen, die eine solche Wiedereinführung einer Wehrpflicht aus organisatorischer und ökonomischer Perspektive deutlich kritisch gegenüberstehen. Ökonomen kritisieren, dass die Wehrpflicht den Arbeitskräftemangel in Deutschland befeuere. Repräsentative Befragungen der Bevölkerung zeigen, dass besonders die betroffene Gruppe der 16- bis 18-Jährigen sich mehrheitlich gegen eine Wehrpflicht ausspricht. Auch das Argument der Geschlechtergerechtigkeit führt in die Irre. Friedensinitiativen und Kriegsdienstgegner lehnen einen Zwangsdienst ganz grundsätzlich ab.
Die verstärkte Debatte um die Wehrpflicht ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Rekrutierungskampagnen der Bundeswehr nicht den erwünschten Erfolg brachten. Dazu heißt es in der Studie selbst unter anderem:
Die Bundeswehr sucht dringend Nachwuchs. Unaufhörlich scheint die Diskussion um die Notwendigkeit der Wehrpflicht im aktuellen Mediendiskurs: Der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius stellte am 12. Juni 2024 sein „Wehrdienstmodell neuer Art“ vor, welches für männliche Staatsbürger die Pflicht, in einem Online-Fragebogen persönliche Angaben für die Bundeswehr zu machen, vorsieht. Dennoch fordern Teile der SPD, die CDU, Verteidigungspolitiker*innen und Militär das Comeback der Wehrpflicht zur „glaubhaften Abschreckung“ und Verteidigung Deutschlands gegen die „autoritäre Bedrohung aus dem Osten“. Für die „Gleichberechtigung“ sei es außerdem an der Zeit, über eine „geschlechtsneutrale Wehrpflicht“ bzw. „Allgemeine Dienstpflicht“ nachzudenken (…)
Für ihre Rekrutierungskampagnen nutzt die Bundeswehr verschiedenste Kanäle der sozialen Medien, YouTube-Serien, Snapchat-Filter und Multimedia-Kampagnen von Plakaten bis hin zu Pizzakartons. Vertreten ist die Bundeswehr außerdem auf verschiedenen Messen vom Tag der Bundeswehr über die Gamescom bis zu Berufs- und Bildungsmessen. All die Bemühungen scheinen jedoch nicht so ganz dabei geholfen zu haben, den schlechten Ruf als Arbeitgeber aufzupolieren (…)
Die Bundeswehr gibt sich in ihren Kampagnen fälschlicherweise besonders offen, feministisch, divers, familienfreundlich, sportbegeistert, abenteuerlustig und progressiv – rundum präsentiert sie sich als attraktiver Arbeitgeber, was sie jedoch nicht ist. Vielmehr verschleiert sie so die tiefgreifenden Probleme in den Strukturen der Bundeswehr, die im Wehrbericht der Wehrbeauftragten alljährlich nachgelesen werden können (…)
Mit dem aktuellen Jugendmagazin der Bundeswehr „BE Strong“ inszeniert sich die Bundeswehr gegenüber einer jungen Zielgruppe von Schüler*innen und Berufseinsteiger*innen einfach als ein ganz „normaler“ Arbeitgeber mit vielfältigen Ausbildungsangeboten und Karrierechancen für junge Menschen, gezeigt werden junge Frauen und Männer bei ihrer Arbeit bei der Bundeswehr. Auf diese Strategie scheinen sie jetzt verstärkt zu setzen. Auch die neue TikTok-Kampagne „Explorer“ zur neuen Serie, in der vier Influencer*innen einen Roadtrip durch die Abteilungen der Bundeswehr machen und damit für die Bundeswehr werben.
Was nicht gezeigt wird ist der tatsächliche Soldat*innen-Beruf, wie er wirklich ist, eine Vorbereitung für den Krieg, den Umgang mit schweren Waffen, das Töten und getötet werden. Und das unter der Prämisse eines bedingungslosen Gehorsams gegenüber militärischen Autoritäten und machtpolitischen Interessen. Die bisherigen Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr für den Freiwilligen Wehrdienst lassen sich schwerlich optimieren. Die Bundeswehrwerbekampagnen der letzten Jahre – von zynisch-plumpen Werbeplakaten und geschichtsvergessenen Slogans wie „was zählt, wenn wir wieder Stärke zeigen müssen“ oder „Gas, Wasser, Schießen“ bis hin zur romantischen Verklärung des Soldat*innen-Berufs durch YouTube-Serien und Social-Media-Präsenz nach dem Motto „Helden in Grün“ – sind einfach nur daneben. Ein „realistischeres Bild“ der Bundeswehr zu zeichnen, wie die Wehrbeauftragte Eva Högl es forderte, hat bisher nicht und dürfte wohl kaum zukünftig nicht dazu beitragen, den Soldat*innen-Beruf oder die Bundeswehr ‚attraktiver‘ zu machen und so mehr Soldat*innen freiwillig zu gewinnen (…)
Fazit
Mit dem „Neuen Wehrdienst“ sollen zunächst 5.000 weitere Wehrdienstleistende ausgebildet werden, die Zahl dieser und die Ausbildungskapazitäten sollen aber in den nächsten Jahren schrittweise erhöht werden. Dennoch wird durchaus bezweifelt, ob die Bundeswehr mit dem nun vorgestellten Wehrdienst die Zielgröße von 203.000 Soldat*innen (geschweige denn noch mehr) wird erreichen können. Spätestens wenn sich diese Erkenntnis durchsetzt, könnte es sehr schnell mit jeder Freiwilligkeit gänzlich vorbei sein, wie teils auch offen eingeräumt wird: „Sollte die Zahl der Freiwilligen nicht reichen, muss es die Pflicht geben. Da bin ich mir mit Boris Pistorius einig“, sagte die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) gegenüber der Welt. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass eine schrittweise Ausweitung des „Neuen Wehrdienst“ zu einer (geschlechtsneutralen) allgemeinen Wehrpflicht mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgen wird.
Es bleibt unklar, wie man die Wehrdienstleistenden nach ihren mindestens 6 Monaten Wehrdienst von einer Karriere bei der Bundeswehr überzeugen kann. Um die Ziele zu erreichen bräuchte die Bundeswehr mehr aktive Soldat*innen für die stehenden Streitkräfte, also Soldat*innen auf Zeit, Berufssoldat*innen und Fachkräfte in den Bereichen Medizin, Informatik und Ingenieurwesen. Und Diskussionen wird es auch noch geben, weil die jungen Menschen dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch nicht „weggenommen“ werden sollen, die es zum Beispiel in sozialen Einrichtungen, Krankenhäusern, im Handwerk oder der Industrie bräuchte.
Wenn heute durch Sozialabbau und Umverteilung von unten nach oben und in die Hände der Rüstungsindustrie „gespart“ wird, wird sich zeigen, welche Auswirkungen die innenpolitische Lage, die durch die zunehmende Armut, Ausgrenzung und wachsenden Rechtsextremismus verschärft wird, auf die Sicherheit Europas haben wird.
Die vollständige Studie kann bei der Informationsstelle Militarisierung unter imi-online.de angefordert werden. Wir danken der Autorin für die Erlaubnis zum Abdruck.