Sophie Berlinghof – eine Heidelberger Antifaschistin
21. Januar 2025
Gedenken, Heidelberg, Veranstaltung
Gekürztes Skript des Vortrags am 14. Januar 2025

Aus Anlass der Debatte um die Platzumbenennung in Handschuhsheim wollen wir einen Blick auf das Leben und Wirken von Sophie Berlinghof geb. Kuhn werfen. Damit wollen wir das Wissen über diese engagierte Handschuhsheimerin verbreiten, die sich Zeit ihres Lebens gegen Faschismus und Krieg, für eine gerechte und soziale Welt und für die Belange ihrer Mitmenschen einsetzte. Es soll aber nicht nur über Sophie gesprochen werden, sondern sie soll auch selbst zu Wort kommen, indem wir Ausschnitte aus Interviews vorlesen. Im Anschluss gibt Martin Hornung einen Überblick über die aktuelle Diskussion um die Platzumbenennung.
Sophie wurde am 9. Dezember 1910 als fünftes Kind des Arbeiterehepaares Kuhn in Handschuhsheim geboren. Weitere Geschwister folgten: Insgesamt hatten Kuhns acht Kinder.
Der Vater Karl Kuhn war schon früh politisch aktiv und ab 1901 Mitglied der SPD und der Gewerkschaft. Auch die Mutter war politisch sehr fortschrittlich eingestellt und vermittelte den Kindern soziales Denken. Weil Karl Kuhn seinen ursprünglichen Beruf – er war gelernter Drucker – aus gesundheitlichen Gründen nicht ausüben konnte, eröffnete das Ehepaar ein Milchgeschäft in Handschuhsheim.
Der Erste Weltkrieg bedeutete eine Zäsur: Karl Kuhn war empört darüber, dass die SPD den Kriegskrediten zugestimmt hatte, und trat 1914 aus der Partei aus, um sich der USPD anzuschließen. Bald wurde er als Soldat eingezogen und erlebte an der Front mit, wie die katholischen und protestantischen Pfarrer die Waffen segneten. Aus Protest erklärte er seinen Austritt aus der Kirche. Daraufhin rief der evangelische Pfarrer in Handschuhsheim von der Kanzel zum Boykott des Milchgeschäfts auf. Es war eine schwierige Zeit für Frau Kuhn und die vielen Kinder, die zu ernähren waren.
Die Einnahmen aus dem Geschäft waren spärlich – schließlich gab es während des Krieges und unmittelbar danach kaum Milch. Deshalb arbeitete der Vater jahrelang parallel in Ludwigshafen bei BASF. Vor allem aber engagierte er sich politisch und gehörte 1919 zu den Gründungsmitgliedern der KPD Handschuhsheim.
Sophie Kuhn musste schon als Kind im Milchgeschäft mitarbeiten. Das stellte zwar eine große Belastung dar, aber hatte auch Vorteile: In Mathe konnte sie in der Schule glänzen, denn Kopfrechnen übte sie jeden Tag an der Kasse.
Der Vater und die Brüder bemühten sich immer, durch zusätzliche Arbeiten und Nebenjobs etwas Geld in die Familienkasse zu bringen. Finanziellen Spielraum gab es aber nie.
Trotz des Geldmangels förderten Sophies Eltern die Bildung des begabten Mädchens. Schon früh empfahlen die Lehrer eine höhere Schulbildung, aber zunächst blieb Sophie auf der Volksschule: Sowohl ihrer Mutter als auch Sophie selbst war die Aussicht, zu den „höheren Töchtern“ zu gehen, suspekt. Nach der achten Klasse befolgte sie aber doch den Rat der Lehrer: 1925 wechselte sie am Ende der Volksschule an die Höhere Töchterschule (das heutige Hölderlin-Gymnasium) und anschließend an die Oberrealschule in die Kettengasse.
Dort wurde sie allerdings nicht mit offenen Armen empfangen. Über die Hürden, die sie an der Schule bewältigen musste, berichtete Sophie viele Jahre später, 1997, im Zeitzeuginnengespräch mit Michael Buselmeier, das im Band „Erlebte Geschichte erzählt“ dokumentiert ist:
Es waren nur ganz wenige Mädchen dort. Wir haben oft genug zu hören bekommen: „Merken Sie sich, Sie sind hier nur geduldet.“
In der Mädchenschule bekam ich eine Schulgeldermäßigung, weil meine Leistungen gut und vor allen Dingen weil wir so viele Kinder waren. In der Realschule habe ich durch Nachhilfestunden etwas mitverdient und jeden Morgen um sechs Uhr Milch ausgetragen. Ich habe im Geschäft mitgeholfen und konnte dadurch die Schule besuchen.
(aus: Michael Buselmeier, Erlebte Geschichte erzählt, Band 1, Heidelberg 2000, S. 183)
1931 machte Sophie Kuhn ihr Abitur. Ihr Traum war es immer, Lehrerin zu werden. Allerdings waren die Bedingungen für Frauen katastrophal: Nur ledige Frauen wurden als Lehrerinnen zugelassen, ihre Gehälter waren weit niedriger als die der männlichen Lehrkräfte, und hinzu kam noch eine hohe Ledigensteuer. Falls eine Pädagogin heiratete, verlor sie automatisch die Stelle. Dieses so genannte Lehrerinnenzölibat galt noch bis in die frühen 1950er – in Baden-Württemberg sogar bis 1956!
Deshalb entschied sich Sophie nach dem Abitur für einen anderen Beruf und begann 1931 das Studium der Zahnmedizin. Grund dafür war die kurze Dauer, wie sie im Gespräch mit Buselmeier schildert:
Also, ein gutes Abitur war da, aber was sollte ich studieren? Meine Eltern sagten: „Wenn du studieren willst, mach es kurz, denn für ein langes Studium reicht unser Geld nicht.“ Mein Vater hatte inzwischen einen kleinen Lastwagen gekauft und machte nebenher mit meinen beiden Brüdern, die damals arbeitslos waren, Transporte und Umzüge, so dass wir einigermaßen gut über die Runden kamen. Ich habe dann Zahnmedizin studiert, weil man dazu nur sieben Semester brauchte. Ich musste das kleine Latinum nachmachen, das war Voraussetzung. Das habe ich nach sechs Wochen bestanden. Im ersten Semester musste man im Studium nicht so viel lernen, da habe ich eben Latein gebüffelt. Nach drei Semestern machte ich das Physikum und war dann ab dem vierten Semester in der Zahnklinik bei den Patienten.
(aus: Michael Buselmeier, Erlebte Geschichte erzählt, Band 1, Heidelberg 2000, S. 184)
Obwohl Sophie Kuhn also viel Zeit in Zuverdienst und Studium stecken musste, war sie schon früh politisch aktiv geworden. 1928 hatte sich die damals 18-Jährige dem Sozialistischen Schülerbund angeschlossen, der allerdings in Heidelberg sehr klein war. Drei Jahre später übernahm sie die Leitung der kommunistischen Jugendgruppe in Handschuhsheim. Darüber berichtet sie:
Ich habe zu dieser Zeit in Handschuhsheim eine Pioniergruppe geleitet, hundertvierzig Kinder von Antifaschisten. Das war ein Donnerwetter für die Nazis, dass so viele Kinder in Handschuhsheim mit der „Roten“ gingen.
- Buselmeier: Und was habt ihr zusammen gemacht?
Wir sind spazieren gegangen, haben Lieder gesungen und Spiele gemacht.
- Buselmeier: Was habt ihr gesungen?
Heimatlieder, auch fortschrittliche Lieder, die es damals gab.
- Buselmeier: Kampflieder?
So richtig nicht. Ich habe vor allen Dingen lernschwache Kinder unterstützt und ein wenig unterrichtet. Wenn ich heute durch Handschuhsheim gehe, sehe ich viele, die sagen: „Es war doch schön, als Sie uns geführt haben.“ Ich habe den Kindern natürlich auch klargemacht, dass es den Unterschied zwischen arm und reich gibt. Und ich habe ihnen an meinem Werdegang gezeigt, wie ich mich durchkämpfen musste. Immer sagte ich ihnen: „Kinder, lernt, lernt, denn Wissen ist Macht. Ihr könnt nur vorwärts kommen, wenn ihr etwas wisst. Deshalb lernt und lest!“
(aus: Michael Buselmeier, Erlebte Geschichte erzählt, Band 1, Heidelberg 2000, S. 183f)
1931 trat sie dem Kommunistischen Jugendverband bei und übernahm dort Aufgaben. Während ihres Studiums wurde sie außerdem in der Roten Studentengruppe aktiv, die sich engagiert in die politischen Debatten an der Universität einbrachte.
Heidelberg war in den frühen 1930ern eine braune Hochburg, und an der Universität waren die Nazis und völkischen Studierenden stark. Am bekanntesten sind sicherlich die jahrelangen antisemitischen Hetzkampagnen und Krawalle gegen den sozialistischen und pazifistischen Statistik-Dozenten Emil Julius Gumbel. Auch in den Instituten eskalierten die politischen Konflikte. Sophie selbst erwähnt die damaligen Auseinandersetzungen mit Nazi-Studenten in einem Interview, das die Studierendenzeitung Schlagloch 1989 veröffentlichte:
Bei uns in der Zahnmedizin war das nicht so spürbar. Aber bei den Juristen und Nationalökonomen gab es Auseinandersetzungen bis zu Saalschlachten unter Studenten. Wenn wir als junge Studentinnen damals vor 33 Flugblätter verteilt haben, hieß es immer: „Geht heim in die Küch‘, geht heim an de Herd.“
(Schlagloch – Heidelberger StudentInnenzeitung, Mai 1989, S. 7)
Selbstverständlich unterstützte Sophie bei den Wahlen zum Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) die „rote Liste“. Bei der AStA-Wahl am 19./20.Januar 1933 konnte die neue „Rote Studentenfront“ deutlich an Stimmen zulegen und erhielt immerhin zwei der 39 Plätze – die Vorgängerliste „Revolutionäre Sozialisten“ hatte 1930 nur einen von 46 Sitzen bekommen. Die Nazis waren empört, denn ihre Liste des NSDStB hatte weit weniger Zugewinne verzeichnet: Mit 18 von 39 Sitzen war sie unter der erhofften absoluten Mehrheit, auch wenn sie zusammen mit dem Nationalen Block und anderen rechten Listen den AStA dominierte.
Nach der Machtübergabe an Adolf Hitler rächten sich die Nazi-Studierenden an den Mitgliedern der „Roten Studentenfront“ mit einer öffentlichen Denunziation. Am 1. Juni 1933 stellte die lokale NS-Zeitung „Heidelberger Beobachter“ die Aktivist*innen an den Pranger und forderte ihre Relegation von der Universität. Sophie Kuhn wurde als besonderes Hassobjekt der Nazis an erster Stelle genannt:
Eine interessante Liste
Die Heidelberger Studentenschaft hat uns eine Liste mit den Namen von Heidelberger Studenten übermittelt, die sich – nachweisbar durch ihre Unterschrift – zum Kommunismus bekannt haben und zur Zeit noch die Ruperto Carola besuchen. Der Führer der Heidelberger Studentenschaft, Pg. cand. med. Gustav Adolf Scheel, hat beim Rektor den Antrag gestellt, daß diese undeutschen Menschen von der deutschen Hochschule ausgeschlossen werden sollen. (…)
Wir geben die Namen dieser 27 Studierenden nachstehend bekannt und verlangen gleichzeitig den sofortigen Ausschluß dieser volksfremden und den Gedanken der Volksgemeinschaft zersetzenden Bolschewiken. Auffällig ist – was mit dem ersten Blick schon ersichtlich ist –, daß ein außerordentlich großer Prozentsatz dieser Leute Juden sind. Wir fordern die rücksichtslose Säuberung unserer Hochschule von derartigen zweifelhaften Elementen!
Hier die Namen der vorläufigen Liste:
Kuhn, Sophie, med. dent. (die Tochter des Milchhändlers Kuhn, Handschuhsheimer Landstraße 132!!); …
(Heidelberger Beobachter, 1. Juni 1933)
Im Fall von Sophie war die Nennung nicht nur ein Aufruf zur Relegation, sondern auch zum Boykott, wenn nicht zu gewalttätigen Angriffen auf das Geschäft ihrer Eltern. Die Universität kam der Aufforderung der Nazi-Studierenden nach, und die auf der Liste Genannten wurden wenige Tage später zwangsexmatrikuliert.
Sophie bekam über Bekannte eine Stelle in einem zahntechnischen Labor vermittelt, um zumindest in ihrem Berufsfeld weiterarbeiten zu können. Aber schon nach vier Wochen endete diese Tätigkeit, als ein Stromableser von den Stadtwerken in den Betrieb kam – ein SA-Mann. Er erkannte Sophie sofort und denunzierte sie, und auf Druck der Nazis entließ das Labor sie daraufhin. Von da an arbeitete sie zunächst im elterlichen Milchgeschäft.
Der NS-Terror und die Verhaftungen vieler enger Genoss*innen hielt die junge Frau nicht davon ab, im antifaschistischen Widerstand aktiv zu werden, vor allem im inzwischen verbotenen Kommunistischen Jugendverband.
Am 22. August 1933 fand eine Großrazzia gegen die KPD Heidelberg und ihr nahestehende Organisationen statt. Unter den 40 Verhafteten war auch Sophie Kuhn. Es folgten tagelange Verhöre durch die Gestapo, und wochenlang war sie im Gefängnis Am Faulen Pelz in so genannter Schutzhaft.
In einem bislang unveröffentlichten Interview sprach Max Oppenheimer, der zusammen mit Sophie dem Heidelberger VVN-Vorstand angehörte, mit ihr über die illegale Arbeit und die Verhaftung der Gruppe:
- Oppenheimer: Du sagtest, du warst in Schutzhaft gewesen, es gab so genannte vorbeugende Maßnahmen und in den meisten Fällen Inhaftierungen solcher Personen, die nach der Machtübernahme „illegal“ für ihre Partei oder für ihre Gewerkschaft gearbeitet haben. Wie war das bei dir? Hattest du Verbindung mit anderen Gesinnungsfreunden, mit denen du in der Jugend warst, gab es illegale Arbeit, an der du beteiligt warst – wie sah das aus?
Zwei Tage vor meiner Schutzhaft war hier eine Funktionärssitzung des Kommunistischen Jugendverbandes des Bezirks, das war am 20. August 1933. Da haben wir eine kleine Besprechung gehabt über die Weiterführung des Kommunistischen Jugendverbandes (wir waren zu viert).
- Oppenheimer: Weißt du noch, wer dabei war?
Da war der Wieland von Mannheim, mein späterer Mann war dabei, Hans Berlinghof, ich war dabei und die Böhmer Else aus Handschuhsheim.
- Oppenheimer: Was habt ihr da besprochen?
Wir haben festgelegt, wie wir weiterarbeiten als Kommunistischer Jugendverband, was wir weiter tun sollen.
- Oppenheimer: Das betraf aber nur Heidelberg?
Nur Heidelberg, das war für den Unterbezirk. Aber der Vertreter des Bezirks, der Wieland, war damals hier. Er wurde auch mir gegenübergestellt bei der Schutzhaft. Er ging später nach Spanien.
- Oppenheimer: Es wurde also geplant, wie man die illegale Arbeit hier weiterführt nur mit zuverlässigen Genossen und Genossinnen. Hat es da bestimmte Schwerpunkte gegeben bei der Besprechung, die von Bedeutung waren? Damals war ja schon abzusehen, daß Hitler Kurs nimmt auf die Einführung der Wehrpflicht, auf Arbeitsdienst, auf die Notstandsarbeiten. Das wäre natürlich interessant zu wissen.
Wir haben damals beraten wegen des Arbeitsdienstes, wir haben besprochen, daß wir Aktionen machen und Diskussionen vor allen Dingen. An das kann ich mich noch genau entsinnen. Weiteres wurde eigentlich weniger besprochen, weil einige Jugendgenossen vorher schon inhaftiert waren, wie der Alfred Frick, der war schon weg. Und deshalb haben wir uns zusammengesetzt.
- Oppenheimer: Der Vorsitzende damals, der Alfred Frick, der war weg, er war schon im Lager, in Kislau, in Schutzhaft. Und die Nazis, sind die da irgendwie dahintergekommen, oder wie war das?
Nein, ich vermute sogar etwas anderes. Else Böhmer hatte einen Freund in Speyer, ein ehemaliger Jugendfreund. Wir haben aber dann erfahren, daß er ein Spitzel war, Karl Dietrich hieß der, und dem muß sie gepfiffen haben, etwas erzählt haben, ich weiß es nicht genau. Aber ich, mein Mann und Else Böhmer, wir wurden mehr aus dem Grunde verhaftet, weil wir Funktionäre waren. (…) Von dieser Sitzung wußten sie nichts. Aber dieser Karl Dietrich, dieser Agent, hat durch Else Böhmer manches vorher erfahren. Er wurde mir bei der damaligen Politischen Polizei gegenübergestellt.
- Oppenheimer: Du wurdest also dann verhaftet und später dein Mann auch. Wie lange wart ihr in Haft?
Zwei Wochen.
- Oppenheimer: Zwei Wochen, im Gefängnis in Heidelberg?
Im Gefängnis, nur mit dem Unterschied, die anderen kamen in Gemeinschaft, und ich kam in Einzelhaft, weil es hieß, ich sei der Kopf.
- Oppenheimer: Aber einen Prozess hat es nicht gegeben. Ihr wurdet dann entlassen.
Wir wurden entlassen.
(Interview mit Sophie Berlinghof (unkorr.), S. 6-8, Stadtarchiv Wiesloch 685)
Daneben gab es immer wieder Hausdurchsuchungen bei der Familie Kuhn, und das Milchgeschäft wurde zunehmend boykottiert. 1934 sahen sich die Eltern gezwungen, das Geschäft aufzugeben.
Als Sophie zum Arbeitsamt ging, wurde ihr eine Stellenvermittlung verweigert, und sie blieb bis zu ihrer Zwangsverpflichtung 1943 arbeitslos.
Trotz der Verfolgungen und Schikanen blieb sie weiter im antifaschistischen Widerstand aktiv. Die Arbeit wurde eher in losen Netzwerken geleistet, die über Parteigrenzen hinweg zusammenfanden und damit endlich – wenn auch viel zu spät – die Gräben zwischen den verfeindeten Parteien der Arbeiter*innenbewegung überbrückten.
Im Gespräch mit Max Oppenheimer geht Sophie näher darauf ein:
Wir waren laufend in Verbindung mit den Sozialdemokraten und mit der Naturfreundebewegung. Wir waren in diesem Kreis. Wir haben Wochenendfahrten gemacht, es war ein ganz enger Kontakt mit Sozialdemokraten und mit Jugendgenossen von uns. Der Kontakt war nach wie vor, diese Tätigkeit haben wir immer durchgeführt.
- Oppenheimer: Man hat also politisch diskutiert, die Probleme, die anstanden, die Fragen im Zusammenhang mit der aggressiven Hitlerpolitik, Kriegsvorbereitung, hat man also durchdiskutiert. In Heidelberg selbst werden ja wohl keine illegalen Flugmaterialien oder sonst etwas hergestellt worden sein, außer ganz am Anfang, aber es kam doch vom Ausland sicherlich Material hier herein. Hast du das gesehen, wurde es verteilt – wie war das konkret?
Mein Mann war Zellenkassier. Nach wie vor ist kassiert worden.
- Oppenheimer: Eine antifaschistische Zelle der KPD hat also bestanden?
Ja, die hat bestanden, und man hat gesammelt für die Frauen, deren Männer damals schon inhaftiert waren, sie haben keine Unterstützung bekommen; der Beitrag wurde so verrechnet. Und wir haben Kontakt gehabt mit Albert Fritz, der Bezirkskassierer, der später bei der Lechleiter-Sache mit den Tod fand. Wir haben Verbindung gehabt mit Hans Gärtner vor allen Dingen, der auch sehr aktiv war in der Kassierung. So haben wir die Verbindung aufrechterhalten mit der Partei, so daß wenigstens auf finanziellem Gebiet etwas gemacht worden ist. Wir haben auch hin und wieder ein Flugblatt bekommen, das wir wieder weitergegeben haben.
- Oppenheimer. Wie habt ihr das bekommen?
Das bekamen wir vor allen Dingen über Albert Fritz über Mannheimer Genossen. Und wir haben es dann mit unseren sozialdemokratischen Freunden, wenn wir auf Wochenendfahrten waren, besprochen. Wenn wir wußten, die alten sind dabei; wenn aber jemand Neues dabei war, waren wir ruhig. Wir haben nur im engsten Kreis das weitergeleitet.
(Interview mit Sophie Berlinghof (unkorr.), S. 11-12, Stadtarchiv Wiesloch 685)
Über Albert Fritz hatten Sophie und ihre Mitstreiter*innen noch bis in die 1940er-Jahre Kontakt nach Mannheim. Fritz informierte sie zumindest andeutungsweise über den Widerstand in der Region, bis er 1942 im Rahmen der NS-Terrorwelle gegen die Vorbote-Gruppe verhaftet und 1943 hingerichtet wurde.
Es gab in dieser Zeit aber auch schöne Entwicklungen in Sophies Leben: 1935 heiratete sie ihren Genossen Hans Berlinghof, der ebenfalls im Kommunistischen Jugendverband aktiv gewesen war.
Nach der Befreiung vom NS-Faschismus engagierte sich Sophie Berlinghof am Wiederaufbau des gesellschaftlichen und politischen Lebens und war an der Neugründung der KPD in Heidelberg beteiligt.
Kurze Zeit war sie als Beisitzerin für die KPD in der Heidelberger Spruchkammer tätig, legte aber ihr Amt aus politischen Gründen nieder:
Wir haben früh gemerkt, dass man die Kleinen – den Müllmann oder den Straßenkehrer, der bei der Nazi-Partei war – vor die Spruchkammer gezogen hat. Die Großen waren zum Teil in Ludwigsburg inhaftiert, wo sie es besser hatten als wir zu Hause. Wir haben das schnell durchschaut und beschlossen: Wir gehen aus der Spruchkammer heraus, wir verurteilen nicht die kleinen Mitläufer, sondern wir wollen die Belasteten und Hauptbelasteten vor uns haben.
(aus: Michael Buselmeier, Erlebte Geschichte erzählt, Band 1, Heidelberg 2000, S. 190)
Tatsächlich waren viele Nazigrößen bald wieder in zentralen Positionen in Politik und Wirtschaft zu finden – die so genannte Entnazifizierung erwies sich als systematische Reinwaschung. Ein typisches Beispiel ist der Heidelberger Oberbürgermeister Carl Neinhaus, der oft als „treuer Diener aller Systeme“ bezeichnet wird: Er wurde in der so genannten Entnazifizierung als „Entlasteter“ eingestuft und war ab 1952 erneut Oberbürgermeister, außerdem CDU-Abgeordneter und Präsident des baden-württembergischen Landtags.
Sophie Berlinghof saß ab 1947 für die KPD im Heidelberger Gemeinderat und engagierte sich vor allem in sozialen Bereichen. Ihre lokalpolitische Arbeit wurde 1956 jäh durch das KPD-Verbot beendet: Wieder wurde ihre Partei verboten, und wieder sah sich Sophie Repressalien ausgesetzt. Ein weiterer schwerer Schlag in dieser Zeit war der Tod ihres Mannes Hans im Jahr 1955.
- Buselmeier: Sie wurden 1947 zum ersten Mal in den Gemeinderat gewählt.
Ja, wir waren ab 1947 vier Frauen im Gemeinderat: zwei von der CDU, Frau Dr. Krall und Frau Beck, eine von der FDP, Frau Walz, und ich. Unsere Partei hatte anfangs drei Stadträte. Ich wurde auf drei Jahre gewählt und dann 1950 nochmals für sechs Jahre.
- Buselmeier: Und wofür waren Sie im Gemeinderat zuständig?
Ich habe mich vor allen Dingen um soziale Probleme gekümmert wie um den Zuzug von Fremden. Ich war im Wohnungsausschuss, im Sozialausschuss und im Wohlfahrtsausschuss. Auch seitdem ich 1956 aus dem Stadtrat ausgeschieden bin, kennen mich viele Heidelberger heute noch und sagen mir oft: „Wenn Sie nicht gewesen wären, hätten wir keine Wohnung.“ Ich war damals ziemlich aktiv in der Stadtratstätigkeit und bin heute noch stolz darauf. Das war eine Befriedigung für mich.
- Buselmeier: Sie mussten das Amt aber 1956 aufgeben. Im selben Jahr kam das KPD-Verbot.
Auf einmal bekam ich ein Schreiben, dass gegen mich Anklage erhoben worden sei, weil ich Adenauer beleidigt hätte. Es ging um ein Flugblatt, das ich unterschrieben hatte. Darin stand, dass im Vorzimmer von Adenauer ehemalige Nazis hockten, dass Globke, der Kommentator der Rassegesetze, ihm assistierte, dass Oberländer wieder an vorderster Stelle war und dass bei uns in Heidelberg die alten Nazis, die belastet waren, wieder ihre Stellen innehatten, so dass sich eigentlich kaum etwas geändert hatte. Deswegen wurde ich angeklagt. Ich musste vor einen Richter treten, der die Anklage vorlas und sagte: „Es tut mir leid, aber das stimmt ja alles, was Sie da geschrieben haben.“ Allerdings kannte mich der Richter, er war im Sozialistischen Studentenbund gewesen.
1955 ist mein Mann gestorben, und ich bekam nur eine kleine Rente, von der ich nie hätte leben können. Darum habe ich mit Hilfe meiner Eltern zusammen mit meiner Schwester, die selbst Kriegerwitwe ist und Kinder hat, ein Obst-, Gemüse- und Südfrüchte-Geschäft eröffnet. Zu Beginn war es sehr schwer, oft sind auch Losungen an meiner Tür gehangen, und man ist gegen uns vorgegangen.
- Buselmeier: Was für Losungen?
Zum Beispiel „die NSDAP lebt“ oder ein großes Hakenkreuz. Vor allen Dingen hat man versucht, mein Geschäft zu boykottieren, wie man es damals bei meinen Eltern gemacht hatte. Aber ich habe eigentlich meine Kundschaft behalten, sie hat sich sogar erweitert, und das Geschäft ist einigermaßen ordentlich gegangen. So haben wir uns durchgesetzt. Als dann das Verbot der Partei kam, standen vor dem Haus vier Kriminalbeamte; zwei von denen hatte ich Wohnungen verschafft. Ich ging hin und sagte: „Wer braucht denn noch eine Wohnung?“ Sie waren natürlich verdutzt und haben sich entschuldigt, aber sie mussten eben meine Wohnung durchsuchen. Und als ich nachmittags in mein Geschäft kam, standen wieder zwei Kriminale da; das waren Leute, die früher für die Gestapo gearbeitet hatten. Sie haben den Laden durchsucht, aber nichts gefunden.
(aus: Michael Buselmeier, Erlebte Geschichte erzählt, Band 1, Heidelberg 2000, S. 191f)
Als 1968 die DKP gegründet wurde, schloss sich Sophie Berlinghof dieser Partei an.
Ein wichtiger Schwerpunkt ihres politischen Engagements war und blieb jedoch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). In Heidelberg zählte sie zu den Gründungsmitgliedern der Kreisvereinigung, war ab 1948 Mitglied des Kreisvorstands und übernahm die Verantwortung für die Kasse. Jahrzehntelang prägte Sophie als Sprecherin der Heidelberger VVN (ab 1971 VVN-Bund der Antifaschisten, VVN-BdA) die Tätigkeit und die Außenwahrnehmung der Organisation. Das Engagement gegen alte und neue Nazis und gegen Aufrüstung und Kriegsgefahr gehörte ebenso dazu wie ihre antifaschistische Bildungsarbeit und das Gedenken an die von den Nazis Ermordeten.
Mit einigen Fotos wollen wir Beispiele aus ihrer vielfältigen Arbeit beleuchten.
Sehr wichtig war für sie immer das Gedenken an die ermordeten Widerstandskämpfer*innen und andere NS-Verfolgte. Sophie Berlinghof war maßgeblich daran beteiligt, die Gedenkstätte für die hingerichteten Antifaschist*innen auf dem Heidelberger Bergfriedhof einzurichten. Dem ging ein zäher Kampf voraus, nicht zuletzt mit der Universität Heidelberg: Nach der Hinrichtung hatten die Nazis die Leichen der Widerstandskämpfer*innen der Anatomie für Sezierübungen überlassen, und es sollte auch nach der Befreiung vom Faschismus noch Jahre dauern, bis die Universität die sterblichen Überreste freigab. Erst 1950 konnten die Genoss*innen auf dem Bergfriedhof beigesetzt und die Gedenkstätte eingeweiht werden, an der von nun an regelmäßige Kranzniederlegungen und Veranstaltungen stattfanden. Bis heute laden die VVN-BdA und der DGB jedes Jahr am 1. November zum Gedenken auf dem Bergfriedhof ein.
Sophie Berlinghof beschränkte sich nicht nur auf die regionalen Widerstandskämpfer*innen, sondern setzte sich für die internationale Vernetzung ein, besonders mit Frankreich. Ihre guten Französischkenntnisse aus der Höheren Töchterschule erleichterten den engen Kontakt mit antifaschistischen Gruppen im Elsass. Besonders intensiv war die Freundschaft mit der „Amicale Georges Wodli“, den Hinterbliebenen und Genoss*innen der elsässischen Widerstandsgruppe um Georges Wodli. Mehrere Mitglieder dieser antifaschistischen Gewerkschaftsgruppe sind ebenfalls auf dem Bergfriedhof beigesetzt. Gegenseitige Besuche und gemeinsame Veranstaltungen mit der Amicale intensivierten den Austausch.
Als Heidelberg eine Städtepartnerschaft mit Montpellier einging, war es naheliegend, auch die antifaschistischen Verbindungen auszubauen. 1970 schloss die Heidelberger VVN eine offizielle „Jumelage“ mit der Fédération Nationale des Déportés, Internés, Résistants et Patriotes, Sektion Montpellier. Die offizielle Unterzeichnung des Dokuments fand im Oktober 1970 im Kurpfälzischen Museum statt, wo sich die Delegation aus Montpellier, Vorstandsmitglieder der VVN Heidelberg um Sophie Berlinghof und der damalige Oberbürgermeister Reinhold Zundel versammelt hatten.
Aber auch jenseits der offiziellen und anerkannten Aktivitäten war Sophie immer beteiligt, auch mit unbequemen Gedenkaktionen wie dem Einsatz gegen kriegsverherrlichende, nationalistische und andere reaktionäre Denkmäler. Dabei war es oft nötig, selbst praktisch Hand anzulegen: Am 30. Januar 1984, am Jahrestag der Machtübergabe an Hitler, beteiligte sich die VVN-BdA Heidelberg an einem Aktionstag: Mit Gedenkkränzen zog das Bündnis in die Weststadt und benannte den monarchistischen Wilhelmsplatz um in Georg-Lechleiter-Platz, um den Mannheimer Widerstandskämpfer zu ehren. In der ersten Reihe des Gedenkzugs gingen unter anderem Sophie Berlinghof und der jüdische Widerstandskämpfer Peter Gingold.
Von zentraler Bedeutung war, Informationen zu Verfolgung und Widerstand zu sammeln und somit die Erinnerung wachzuhalten. Auch Sophie dokumentierte viele Details und Angaben zu Antifaschist*innen und verschiedenen Verfolgtengruppen aus der Region. Noch intensiver engagierte sich Max Oppenheimer an der Recherche und Dokumentation, der gemeinsam mit Sophie im Vorstand der VVN tätig war und als Journalist und Autor insbesondere zum regionalen Widerstand forschte. Max Oppenheimer war aber deutlich jünger und nach den Novemberpogromen 1938 nach England emigriert. Deshalb konnte Sophie, die die NS-Zeit bewusster miterlebt hatte, zahllose Daten und Informationen beisteuern.
Noch wichtiger als die Dokumentation war für Sophie die lebendige Vermittlung an jüngere Generationen. Zu der vielfältigen antifaschistischen Bildungsarbeit zählen Stadtrundfahrten und -rundgänge zu Orten von Verfolgung und Widerstand ebenso wie öffentliche Redebeiträge, Interviews und Auftritte als Zeitzeugin. Das bestdokumentierte Beispiel ist das Gespräch mit Michael Buselmeier von 1997, aus dem vorhin Passagen zitiert wurden. Der enge Austausch mit jüngeren Antifaschist*innen und fortschrittlichen Jugendgruppen, aber auch mit Schüler*innen, Lehrlingen und Studierenden, mit Gewerkschaften und anderen politischen Organisationen stand für Sophie immer an erster Stelle.
Ein großartiges Projekt stellte der Film „Heidelberg im Nationalsozialismus – Verfolgung und Widerstand“ dar, den die VVN-BdA Heidelberg 1993 zusammen mit der lokalen Mediengruppe Schrägspur realisierte. Daran beteiligte sich – zusammen mit weiteren Zeitzeug*innen – auch Sophie mit mehreren Interviews, in denen sie über die Zeit rund um die Machtübergabe, über die Universität im NS-Faschismus und über ihre Verhaftung spricht. Der Film ist auf dem youtube-Kanal der VVN-BdA Heidelberg zu sehen, leider in nicht sehr guter Qualität. Trotzdem ist er ein bedeutendes Dokument und gibt uns nicht zuletzt einen Eindruck von Sophies Auftreten.
Auch im hohen Alter blieb sie immer engagiert gegen Faschismus und Krieg und trat als Zeitzeugin auf, wie nicht zuletzt dieser Film zeigt. Ihr Einsatz galt einer besseren, einer gerechteren Welt. Das beinhaltete für Sophie aber nicht nur die Arbeit in klassischen politischen Zusammenhängen, sondern auch den sozialen Einsatz für ihre Mitmenschen. Vor allem im Stadtteil Handschuhsheim war sie fest verankert, und stets hatte sie ein offenes Ohr für alle, die Rat und Hilfe suchten.
Dementsprechend brachte die Feier zu Sophies 90. Geburtstag, die am 9. Dezember 2000 im Essighaus stattfand, unterschiedliche Spektren zusammen: Jüngere Antifaschist*innen schenkten ihr eine selbstgebackene Torte mit dem Antifa-Logo, und die damalige Oberbürgermeisterin Beate Weber (SPD) hielt eine Ansprache. Auch Politiker*innen weiterer Parteien und Organisationen hielten Reden, ebenso wie der Ehrenvorsitzende der VVN-BdA, der Widerstandskämpfer Alfred Hausser.
Ihr Tod am 18. März 2002 war ein schwerer Schlag für viele Heidelberger*innen und für Antifaschist*innen nicht nur in Süddeutschland. Viele erinnern sich an die riesige Beerdigung, mit der Sophie das letzte Geleit gegeben wurde.
Sophie Berlinghof war in vielfacher Hinsicht eine außergewöhnliche Handschuhsheimer Persönlichkeit:
Obwohl sie als Frau aus armen Verhältnissen denkbar schwierige Bedingungen hatte, erkämpfte sie sich einen höheren Bildungsweg, ein sehr gutes Abitur und ein Studium. Trotz Anfeindungen und Verfolgungen engagierte sich Sophie in den frühen 1930er-Jahren gegen den aufkommenden Faschismus und blieb auch nach der Machtübergabe an die Nazis im antifaschistischen Widerstand aktiv.
Nach der Befreiung vom Faschismus hatte sie als Frau im Gemeinderat erneut eine Ausnahmeposition inne. Das Engagement für sozial Benachteiligte stand bei ihrer lokalpolitischen Arbeit im Mittelpunkt.
Jahrzehntelange spielte Sophie eine zentrale Rolle in der Heidelberger Gedenk- und Bildungsarbeit. Unermüdlich setzte sie sich für eine bessere, für eine gerechtere Gesellschaft ein, für eine Welt ohne Ausbeutung und Krieg.
In der Ausgabe vom 13. Dezember 2000 berichtete die Rhein-Neckar-Zeitung über die Feier zu Sophies 90. Geburtstag und titelte: „Ein Vorbild für alle“. Damit hatte sie recht.
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Im Folgenden der Beitrag von Martin Hornung, Mitglied der VVN-BdA Heidelberg, zur Platzumbenennung in Handschuhsheim:
Ich möchte nach dem Vortrag noch zehn, zwölf Minuten auf die Vorgeschichte und die Umstände eingehen, unter denen die Heidelberger Straßenbenennungs-Kommission 2023 vorgeschlagen hat, Karl Kollnig die Namensnennung für den Platz in Handschuhsheim zu entziehen – und wie es dazu gekommen ist, dass der Platz künftig möglicherweise nach Sophie Berlinghof benannt werden könnte bzw. den aktuellen Stand schildern.
Dr. Karl Rudolf Kollnig konnte nach seiner „Entnazifizierung“ bereits 1948 zurück ins „normale Leben“, als Lehrer am Bunsengymnasium. Nach einer akademischen Anlaufzeit machte er schnell wieder Karriere und wurde 1962 Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg für Soziologie und Politikwissenschaft. Bis 1965 war er gleichzeitig Prorektor der PH, anschließend bis 1971 Rektor und bis zu seiner Pension 1975 erneut Prorektor. Politisch äußerte er sich auch in der BRD weiter als gestandener Reaktionär: In den 70er Jahren war er auch einer der aktivsten Verfechter der berüchtigten Berufsverbote für linke Lehrerinnen und Lehrer auf Grund des sogenannten „Radikalenerlasses“: 27 Nicht-Übernahmen nach dem Examen in den Schuldienst, die Hälfte der insgesamt über 50 Berufsverbote an der PH Heidelberg, ergingen von 1973 bis 1975.
Kollnigs Nazi-Vergangenheit hat erstmals Wilhelm Pauli enthüllt, Vorsitzender des „Allgemeinen Studentenausschusses (AStA)“, wie die Verfasste Studierendenschaft damals hieß. Nachdem Kollnig (geboren 1910) in einer linken Hochschulzeitung, für die Wilhelm Pauli presserechtlich verantwortlich war, als „Reaktionär“ bezeichnet worden war, hat er 1973 Strafanzeige gegen den AStA-Vorsitzenden gestellt, wegen „Beleidigung“.
Im Prozess las Pauli zum Beweis der Bezeichnung „Reaktionär“ aus früheren völkischen Schriften Kollnigs vor. Unter Titeln wie „Volkstum, Volkskunde und Stammescharakter einer Großstadt“ hat er antisemitische Hetzartikel verfasst. Von 1938 stammt zum Beispiel dieses Zitat: „Zu Beginn des 18. Jahrhunderts nahm das Verhalten der Juden in der Stadt so aufreizende Formen an, daß sich die Beschwerden der Bürger beim Stadtrat häuften. Man braucht ja nur einen Blick in die Mannheimer Rathausprotokolle zu werfen, um zu erkennen, wieviel Unruhe und Beschwernis die Bürger durch die Juden erlitten“ (zitiert nach PH-Seminararbeit 2016 und Jahrbuch 2021 des Heidelberger Geschichtsvereins).
Mitten im Zeugenvortrag des Angeklagten Pauli aus Kollnigs Nazi-Schriften hat dieser fluchtartig den Gerichtssaal verlassen. Wilhelm Pauli wurde anschließend freigesprochen – aus formalen Gründen.
Kollnig hat ab 1947 in Neuenheim gelebt, die letzten Jahrzehnte bis zu seinem Tod 2003 in Handschuhsheim – in der Straße „Am Zapfenberg“, wenige hundert Meter entfernt von dem drei Jahre später nach ihm benannten Platz. Ob Kollnigs Nazi-Vergangenheit 2005 im Stadtteilverein Handschuhsheim bekannt war oder nicht, ist nicht überliefert. Zwei Jahre nach seinem Tod kam jedenfalls aus dem Gremium der Vorschlag, einen bis dahin namenlosen Platz im Stadtteil nach Kollnig zu benennen, auf Grund seines vormaligen PH-Rektor-Amts bzw. seiner „Prominenz“.
Im Januar 2006 wurde der an der Kreuzung der drei Straßen Mühltalstraße/Waldweg/Bergstraße liegende Karl-Kollnig-Platz eingeweiht. Der Bericht im damaligen „Stadtblatt“, in dem Kollnig als „Wissenschaftler, Heimatforscher und Publizist“ bezeichnet wurde, endet mit der „Begründung“: „Er genoss es, häufig auf der dort stehenden Bank zu sitzen und sich mit den vorübergehenden Menschen zu unterhalten.“
Selbstkritisch ist anzumerken, dass die Platzbenennung bedauerlicherweise geräuschlos vonstatten gehen konnte – weil viele nicht aufmerksam waren: weil es weder von der Stadtspitze noch von der PH oder dem Geschichtsverein, noch von der gesamten Heidelberger Linken vorher eine Reaktion, geschweige denn Widerspruch gegen die Namensgebung gegeben hat.
Wilhelm Pauli hat zum Ende der 13-jährigen Prorektor-/Rektor-Ära Kollnigs an der PH 1975 Berufsverbot als Lehrer erhalten – zusammen mit sieben weiteren Betroffenen, darunter auch Harald Stierle und meine Person. Wilhelm Pauli hat danach lange Zeit für die alternative Heidelberger Zeitung „Communale“ geschrieben. Als „freier Journalist“ musste er sich 40 Jahre durchʼs Leben schlagen. Vor neun Jahren ist er in Berlin im Alter von nur 72 Jahren in Altersarmut gestorben.
Überlegungen zu beantragen, den Kollnig-Platz umzubenennen in Sophie-Berlinghof-Platz, gab es erstmals 2016. Damals haben vom „Radikalenerlass“ Betroffene mit Unterstützung einer Geschichts-Professorin an der PH eine Ausstellung gegen die Berufsverbote gezeigt. In der Eröffnungs-Veranstaltung wurden auch Arbeiten von zwei Studentinnen vorgestellt, aus einem Seminar zur 68-Bewegung an der PH.
Ein Vortrag befasste sich mit dem Prozess „Kollnig versus Pauli“. Die Studentin hatte zur Person Kollnig Recherchen in Archiven angestellt und berichtete detailliert anhand von Unterlagen und Dokumenten: Unter anderem, dass er ab 1934 auch SA-Mitglied („Scharführer“) war und ab 1937 NSDAP-Mitglied. 2021 wurde die ursprüngliche Seminar-Arbeit als Aufsatz im Jahrbuch des Heidelberger Geschichtsvereins veröffentlicht – was zwei Jahre später mit zum Vorschlag Umbenennung des Kollnig-Platzes beigetragen hat.
Harald Stierle, der seit vielen Jahren in Handschuhsheim wohnt und auch Bezirksbeirats-Mitglied der Linken war, hat schließlich im Oktober 2023 bei der Stadt offiziell den Antrag eingereicht, den betreffenden Platz im Stadtteil „Hendesse“ nach Sophie Berlinghof zu benennen – unterstützt durch ein von der VVN-BdA Heidelberg erstelltes Exposé zum Lebenslauf von Sophie.
Zu Sophie wurde bereits alles gesagt: dass sie mit 21 Jahren in den Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) eingetreten ist, 1933 im kommunistischen Widerstand gegen die Nazis war, 1946 in Heidelberg die KPD-Ortsgruppe mitbegründet hat und bis 1956 Stadträtin der KPD war. Daraus heute eine „demokratischen Wertvorstellungen widersprechende extremistische Haltung“ zu konstruieren oder ihr „Stalinismus“ anzuhängen, wie es auch versucht wird, ist nicht nur falsch, sondern infam und Diffamierung.
Eine Handschuhsheimerin, die Sophie Berlinghof noch selbst gekannt hat, hat im November in einem Leserbrief in der RNZ zu Sophie geschrieben: „Kommunismus bedeutete für sie: eintreten für eine gerechte Gesellschaft.“ Als VVN-BdA sind wir der Initiative Heidelberger Stolpersteine dankbar dafür, dass sie dieses Jahr auch einen Stolperstein zu Ehren von Sophie verlegen möchte und die Forderung nach Umbenennung des genannten Platzes in Sophie-Berlinghof-Platz mit unterstützt.
Die Entscheidung, ob es mit der Umbenennung klappt oder nicht, fällt in fünf Wochen. Leider tun die Verantwortlichen des zuständigen Amts für Vermessungen bzw. die Stadtverwaltung aus politischen Gründen seit der Einreichung des Vorschlags viel dafür, um eine Benennung nach Sophie Berlinghof zu verhindern. Am 5. Februar tagt der Haupt- und Finanzausschuss, am 20. Februar der Gemeinderat. Sie stimmen endgültig über die Frage ab, nach wem der Kollnig-Platz künftig benannt wird.
Für die Bezirksbeirats-Sitzung in Handschuhsheim am 7. November 2024 hatte die Stadt Harald Stierles Vorschlag (Sophie Berlinghof) zunächst nicht einmal in die Tagesordnung aufgenommen, wollte also gemäß einer behaupteten „Vorauswahl“ nur über zwei Vorschläge sprechen und abstimmen lassen: Annette Albrecht und Berndmark Heukemes. Die Gemeinderats-Fraktion Die Linke/Bunte Linke hat jedoch vorsorglich vor dem Sitzungstermin die Bezirksbeiratsmitglieder über unseren ebenfalls eingebrachten Antrag schriftlich informiert, so dass der Name Sophie Berlinghof doch mit zur Diskussion und Abstimmung stand.
Nachdem eine Bezirksbeirätin der SPD und der Stadtteilvereinsvorsitzende in der Sitzung den Vorschlag unterstützt und Sophies Wirken und Beliebtheit gewürdigt haben, erklärte der Vertreter des Vermessungsamts: „Die Kommission hält Berlinghof aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der KPD für ungeeignet. Das ist nichts gegen ihre Verdienste, sie hat schlichtweg die Kriterien nicht erfüllt“ (RNZ, 12.11.2024). Schon im Vorfeld hatte er auf schriftliche Anfrage eines Bezirksbeiratsmitglieds in einer Mail behauptet: „Die KPD hat die Weimarer Republik und die Demokratie bekämpft, wie das auch die NSDAP tat.“ Zudem sei die KPD 1956 vom Bundesverfassungsrecht verboten worden. Die Kommission sehe „Berlinghof nicht als heutigen Maßstäben für eine Neubenennung genügend an. Personen, von denen Positionen bekannt sind, die im Widerspruch zu seit 1918 in Deutschland verwirklichten demokratischen Wertvorstellungen stehen, kamen für eine Neubenennung nicht in Frage. … Nach einem Grundsatz der Kommission können problematische Haltungen von Persönlichkeiten nicht durch Verdienste kompensiert werden.“
Ob dies alles Meinung der Kommission insgesamt ist oder vielmehr die der Stadtverwaltung – die Frage ist berechtigt. Tatsächlich wurde in Heidelberg nach dem Krieg bereits eine Straße nach einem KPD-Mitglied benannt – nachzulesen auch im 160-seitigen Bericht der Kommission von 2023. Darin heißt es zu bisherigen Benennungen unter der Überschrift „Widerstand“: „Albert Fritz (1899-1943), Lokalpolitiker (KPD), hingerichteter Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus in Kirchheim.“ Auch Heinrich Fehrentz und das Ehepaar Alfred und Käthe Seitz (Käthe SPD-Mitglied), nach denen in den 70er Jahren die Fehrentz-Straße in Bergheim und die Seitz-Straße in Neuenheim benannt wurden, unterstützten den kommunistischem Widerstand. Zuletzt sind 2014 und 2016 in beiden Straßen zusätzlich Legendenschilder angebracht worden.
Im Bezirksbeirat in Handschuhsheim stimmten am Ende sechs der 15 Mitglieder für Heukemes; Sophie Berlinghof erhielt vier Stimmen, Annette Albrecht ebenfalls vier. Nach derzeitigem Stand kommt es also im Februar im Haupt- und Finanzausschuss und im Gemeinderat aller Voraussicht nach zu einer Abstimmung zwischen diesen drei Vorschlägen – Ausgang offen:
- Annette Albrecht (1992 Gründerin des „BiBeZ – Ganzheitliches Bildungs- und Beratungszentrum zur Förderung und Integration behinderter / chronisch erkrankter Frauen und Mädchen e.V. Heidelberg“, Vorschlag der Kommission)
- Sophie Berlinghof (Vorschlag Harald Stierle, mit Unterstützung von VVN-BdA und der Fraktion Die Linke/Bunte Linke)
- Berndmark Heukemes (Archäologe, Heiligenberg-Ausgrabungsforscher; Vorschlag des Stadtteilvereins)
Für eine Mehrheit im Gemeinderat für den Antrag Berlinghof braucht es Gegenöffentlichkeit. Die vorgebrachten „Wertevorstellungen“ der Stadt kommen krudem Antikommunismus gleich. Sie bedeuten Gleichsetzung von Kommunistinnen, Kommunisten bzw. Linken mit Nazis (im Sinne der berüchtigten „Extremismus“- bzw. „Hufeisentheorie“). Dies kann nicht akzeptiert werden. Dieses Jahr wird auch der Schriftsteller Thomas Mann wieder gewürdigt werden, für seinen 150. Geburtstag. Er hat zum Antikommunismus bekanntlich den klugen Satz geprägt: Der „Schrecken … vor dem Wort Kommunismus, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, … ist die Grundtorheit unserer Epoche“. Das war 1943, zwei Jahre vor der Befreiung von der Naziherrschaft, die sich am 8. Mai zum 80. Mal jährt.
Der Kollnig-Platz betrifft eine von neun im Februar anstehenden Umbenennungen in Heidelberg. Zu der in Handschuhsheim hat es in der RNZ im letzten Jahr die meisten Leserbriefe gegeben. Neben zwei weniger wichtigen – der Platz sei für eine Würdigung „zu klein“ und „unscheinbar“ – haben sich drei Leserbriefe im November und Dezember ausdrücklich für die Platzbenennung nach Sophie Berlinghof ausgesprochen.
Wir hoffen, dass im Gemeinderat außer den Fraktionen Die Linke/Bunte Linke und der SPD auch Volt/„Heidelberg in Bewegung (HiB)“, „Die Partei“ oder auch die GAL unseren Antrag unterstützen, was zusammen immerhin 16 Stimmen wären. Um eine Mehrheit zu erreichen, wird es am Ende darauf ankommen, wie die Mitglieder der größten Fraktion, der Grünen abstimmen, die 13 der insgesamt 48 Sitze haben.
Was den Vorschlag Berndmark Heukemes angeht, schließen wir uns der Stellungnahme der Kommission an, Heukemes sei als junger Mann mit 16 Jahren Mitglied der Hitlerjugend gewesen und sollte für eine Benennung nicht in Frage kommen. Ein Bezirksbeiratsmitglied der Grünen hat dazu laut RNZ erklärt: „Es bringt nichts, einen mittleren durch einen kleinen Nazi zu ersetzen.“
Zum Vorschlag der Kommission für die Heidelberger Aktivistin für Frauen- und Behindertenrechte, Annette Albrecht, hat die Fraktionsgemeinschaft Die Linke/Bunte Linke so Stellung genommen: Auch die Benennung einer Straße nach ihr sollte auf Grund ihrer großen sozialen Aktivitäten in Heidelberg unterstützt werden – allerdings in einem anderen Stadtteil. Denn anders als Annette Albrecht (wie auch Heukemes) hat Sophie Berlinghof auch 90 Jahre in Handschuhsheim gelebt, unweit des jetzt neu zu benennenden Platzes.
Die Kommission selbst nennt den „Ortsbezug“ ebenfalls als wichtiges Kriterium für Namensnennung. Außerdem würde mit Sophie Berlinghof eine Frau geehrt, die für ihr großes soziales Engagement bekannt und beliebt war. Vor allem war Sophie aber das gerade Gegenteil von Nazi-Anhänger Kollnig, hat als Antifaschistin mutig im Widerstand gegen die Faschisten und gegen Krieg gekämpft. Die Hoffnung ist, dass dies zusammen auch im Gemeinderat zu einer positiven Entscheidung führt.
Abschließend: Wir würden uns freuen, wenn möglichst viele von Euch sich die Zeit nehmen könnten, auch zur Sitzung des Gemeinderats am 20. Februar ab 16.30 Uhr ins Rathaus zu kommen, damit wir zusammen noch einmal ein Zeichen setzen können wie heute.
Zum Schluss ein ganz besonderes Dankeschön an Sahra Mirow, Zara Kızıltaş und Hilde Stolz, die heute leider nicht da sein können, als Gemeinderatsmitglieder unseren Antrag aber aktiv unterstützen.
Allen danke fürʼs Kommen heute Abend.