Gedenkveranstaltungen in Dettenhausen, Tübingen und Riedlingen
19. September 2025

Zum Jahrestag der Ermordung von Gottlieb Aberle, Hermann Schlotterbeck und Andreas Stadler organisierten Die VVN-BdA Ortsgruppe Tübingen-Mössingen, das offene Treffen gegen Faschismus und Rassismus (OTFR) und die Rosa-Luxemburg Stiftung am 9. April eine Gedenkfeier in Dettenhausen und eine Abendveranstaltung Linken Zentrum Trude Lutz in Tübingen. Alle drei wurden am 21. April 1945 in den frühen Morgenstunden zwischen 5 und 5.30 Uhr unweit von Riedlingen in einem abgelegenen, wüsten Ödland am Fuß des Donauhochufers von drei SS-Leuten per Genickschuss ermordet und verscharrt.
Zum Gedenken an die Ermordung des damals 55-jährigen Gottlieb Aberle versammelten sich am 9. April 40 interessierte Bürger von Dettenhausen und Mitglieder der VVN-BdA Ortsgruppe Tübingen/Mössingen. Hier gedachte der stellvertretende Bürgermeister Reinhold Halderder Leidensgeschichte Aberles. Er war Mitglied der KPD, wie viele damalige Dettenhäuser Bürger: Die KPD zählte in den vorletzten freien Wahlen 1932 mehr als doppelt so viele Stimmen als die NSDAP. Aberle verbrachte insgesamt mehr als 4 Jahre in Konzentrationslagern und Gestapohaft. 1933 von der NSDAP als Kommunist verhaftet, kam er ins Schutzhaftlager Heuberg. 1939 wurde er „wegen politischer Unzuverlässigkeit“ erneut verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht.
Und am 20. Februar 1945 schließlich wurde er „wegen Feindbegünstigung“ im Gestapogefängnis Hotel Silber in Stuttgart interniert. Was hat er getan? Aberle hatte auf der Dettenhäuser Lichtung zwei abgestürzte und schwerverletzte kanadische Bomberpiloten gefunden. Er nahm sie zu sich nach Hause, versorgte sie mit einem Verbandspäckchen der Wehrmacht, gab ihnen zu essen und lieferte sie am nächsten Morgen bei der Polizei ab.
In dieser mutigen lebensbedrohlichen Tat, die den gewalttätigen Blick auf den angeblichen Feind überwand, zeigte Aberle seine geistig-politische Freiheit, die ihn von vielen anderen unterschied: Unter der Androhung von Gewalt ließen sich die meisten Menschen beherrschen und duckten sich weg. Nicht wenige machten sich mit der Gewaltherrschaft gemein – oft zum eigenen Nutzen.
Möglicherweise half Aberle die Sorge um seinen schwer kriegsverletzten Sohn für seinen Widerstand. Sicherlich hat ihm aber auch seine kommunistische Haltung mit der tragenden Überzeugung von Gleichheit, Brüderlichkeit und Solidarität die Kraft gegeben, zum moralischen Deserteur zu werden. Dafür wurde er ermordet. Die moralische Perversität des Naziregimes zeigt sich in der Absurdität dieses Todes.
Pfarrer Kreuser bezog sich auf die christliche Erzählung vom barmherzigen Samariter aus dem Lukasevangelium. Diese berichtet von der lebensrettenden Hilfe, die ein schwer verletzter Jude von einem Samariter bekommt, Samariter und Juden waren Feinde. Aberle war als Kommunist kein Kirchgänger, betonte Kreuser, und er würdigte Aberles Handeln als eine samaritische Tat. In dieser Würdigung zog er eine Verbindung zwischen der christlichen Ethik universeller Nächstenliebe mit den universellen Menschenrechten, die in der kommunistischen Ethik verankert sind und für deren Befolgung Aberle ermordet wurde.
Der Historiker Ulrich Widmann begann seine Gedenkrede mit den Worten: “als ich als junger Lehrer in Riedlingen von der Ermordung von Gottlieb Aberle, Hermann Schlotterbeck und Andreas Stadler erfuhr, ergriff mich vor allem das Schicksal des gerade 18jährigen Stadler. Es ließ mich nicht mehr los.“ Seither forschte er unermüdlich und unbeirrt gegen viele Hindernisse, die ihm bei seinen Recherchen über dieMordtat in den Weg gelegt wurden: “die Aufklärung wurde oft behindert, die Täter oft mehr geschützt als verfolgt“. Die akribisch genau geführte Buchhaltung, mit exakter Nutzen-Kosten-Rechnungen der Gefangenen und Ermordeten, die er bei seinen Recherchen entdeckte, macht ihn bis heute sprachlos. Dieser barbarische Ungeist, sagte er weiter, habe noch lange in den bundesdeutschen Ämter regiert. Etwa beim Landesamt für Wiedergutmachung, wie aus dessen Bescheiden hervorgehe: Jahrelang wurden Aberles Erben eine Entschädigung abgesprochen. Erst 1957(!) bekamen sie für 50 Monate und 14 Tage Haft die Summe von 7500 D-Mark. Die Erschießung wurde als Kriegsmaßnahme – wegen Feindbegünstigung – gewertet, dafür wurde keine Entschädigung bezahlt. Im September 1967 teilte das Landesamt mit, dass sie „keinen Schaden am Leben“ Aberles erkennen können.
Die Veranstaltung am Abend im Linken Zentrum Trude Lutz in Tübingen galt der Geschichte der Täter. Ulrich Widmann und Hermann Abmayr führten durch den Abend.
Aberles, Schlotterbecks und Stadlers Mörder gehörten zum Personal des Gestapo-Gefängnisses „Hotel Silber“ in Stuttgart bzw. des „Schutzhaftlagers“ Welzheim. Aberle war Kommunist, Schlotterbecks Familie war bekannt als kommunistische Widerständler aus Stuttgart-Untertürkheim, Stadler war Deserteur, er wurde vermutlich zwangsrekrutiert. Im Frühjahr 1945 näherten sich die Franzosen von Westen und die Amerikaner von Norden Stuttgart. Das Gestapo-Gefängnis Stuttgart und das „Schutzhaftlager“ Welzheim wurden evakuiert, die Gefangenen auf einen Gewaltmarsch zur „Alpenfestung“ geschickt.
Warum diese drei Männer aus dem Transport geholt und in Riedlingen erschossen wurden konnte bis heute nicht geklärt werden. Der Befehl kam von SS-Obersturmbannführer Johannes Thümmler, der sich später auf die fernmündliche Anordnung aus dem Reichsicherheitshauptamt in Berlin berief. Einer der Täter und vermutlich Aberles Mörder war Albert Schaich, ein 44-jähriger Lehrer und überzeugter Nazi, der seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP war. Er gehörte auch der SS an und war im Hauptquartier der Gestapo in Stuttgart als Wachmann im Dienst. Nach der Befreiung stand er vor Gericht, wurde in verschiedenen Prozessen freigesprochen und wieder verurteilt.1950 fand noch ein Spruchkammerverfahren in Stuttgart statt, bei dem Schaich als Hauptschuldiger eingestuft und als Lehrer suspendiert wurde. Ein halbes Jahr später war er wieder im Dienst und bis 1969 Lehrer und Konrektor der Melanchthonschule Tübingen.
1995 erschien im schwäbischen Tagblatt Tübingen eine Dokumentation zu Albert Schaichs Nazi-Vergangenheit. Tillmann Jens, damals 41 Jahre alt, erfuhr davon. Die Schaichs waren Nachbarn der Familie Jens und für Tillmann „Ersatzgroßeltern“, „die mir die Kindheit zur Kindheit machten“, an einem „de Ort, der mir Heimat war“ . Er schrieb ein Essay. Es ist ein Bewältigungsversuch im Kampf gegen den „Totalverlust“ seiner Kindheit, „wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener.“ Er ringt darum, die Spaltung im „Doppelleben„ des “gewählten Großvaters“, das „mörderische Ich“ und das „gute Ich“ zusammenzubringen. Rupert Hausner las Auszüge aus dem Essay.
Am 21. April, dem Todestag der drei Ermordeten, lud Ulrich Widmann, langjähriger SPD-Stadtrat in Riedlingen, zum Gedenken in Riedlingen ein. Es versammelten sich etwa 20 Personen, Bürger und Bürgerinnen aus Riedlingen und VVN- Mitglieder am Gedenkstein, der 1985 auf Widmanns ausdauernde Initiative nahe an der Mordstelle aufgestellt wurde. Für ein verantwortungsbewusstes Urteilsvermögen müsse eine Gesellschaft in der Erinnerung ihr Bewusstsein über ihre eigene Geschichte ständig wachhalten, betonte er. Gerade in der Gegenwart sehe man, wie wichtig das Wissen über die eigene Geschichte sei, damit sie sich nicht wiederhole.
Tilman Jens ringt um die Vereinbarkeit des guten mit dem mörderischen Ersatzgroßvaters.
Wenn Politik Gesellschaft spaltet, indem sie Andersdenkende als Feinde behandelt, liegt in ihr bereits der Keim der erbarmungslos vernichtenden Menschenverachtung des Faschismus Es braucht die psychisch-geistige Anstrengung eines jeden Einzelnen, sich zu dieser Spaltung nicht verführen und hinreißen zu lassen.
Fotos: Hans-Peter Hellermann