Rede zum Totensonntag 2023 in Karlsruhe
26. November 2023
Gedenken, Karlsruhe, Kundgebung
Liebe Kameradinnen und Kameraden,
liebe Freundinnen und Freunde,
die Liste an Namen, derer heute gedacht werden muss, ist nahezu endlos. Namen, wie sie hier auf den Stelen am Euthanasiemahnmal verewigt sind. Namen, wie sie die Totenkreuze auf dem Ehrengräberfeld für die sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zieren, auf dem der zweite Teil der Gedenkveranstaltung stattfinden wird. Und die Namen derer, die nicht geschwiegen haben und gegen das Unrecht ankämpften. Selbstverständlich haben all jene Namen in unserer Erinnerung ihren Platz. Exemplarisch möchte ich heute von unserem langjährigen Ehrenvorsitzenden der VVN-BdA, Alfred Hausser, und dem Karlsruher Antifaschisten Karl Wagner erzählen. Ich möchte erzählen von zwei Biografien, die uns auch heute noch Mahnung sind.
Alfred Hausser kam am 27. August 1912 als Sohn einer Arbeiterfamilie in Stuttgart-Gablenberg zur Welt. Der Vater war Metallarbeiter, die Mutter Konsum-Angestellte. Mit dem Frühjahr 1919 begann Alfreds Schulzeit. Nach deren Ende nahm er eine Lehrstelle in einem Betrieb in Stuttgart-Bad Cannstatt an. Ein Viertel der dort Beschäftigten waren Lehrlinge, die bereits nach dem ersten Lehrjahr – ohne als Arbeiter bezahlt zu werden – in der Produktion eingesetzt wurden. Alfred setzte sich für seine Lehrlingskollegen ein und wurde nach seinem Beitritt zum Deutschen Metallarbeiter-Verband zum Jugendvertrauensmann gewählt. Bereits während seiner Lehrjahre erkannte Alfred, dass das zunehmende soziale Elend den Aufstieg der Nazipartei begünstigte und trat daher 1930 in den KJVD, den kommunistischen Jugendverband, ein. 1932 wurde er Mitglied der KPD. Alfred hatte früh erkannt: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“
Für sein Engagement gegen den Krieg wurde Alfred dann schließlich zur Haftstrafe im Zuchthaus Ludwigsburg verurteilt – perfiderweise zweimal. Das erste Mal 1936 unter Hitler wegen sogenannter „Vorbereitung zum Hochverrat“, das zweite Mal 1950 unter Adenauer, da er Stellung gegen die US-amerikanische Aggression im Koreakrieg bezog. Zur Zeit des Faschismus wurde Alfred wie viele andere Häftlinge im Zuchthaus Ludwigsburg zur Zwangsarbeit für den Bosch-Konzern eingesetzt. Entschädigung erhielt er dafür zu Lebzeiten keine.
Alfred war stets darum bemüht, die deutsche Jugend für die Geschichte zu sensibilisieren, auf dass sie dazu imstande sein sollte, auch das Unrecht ihrer Zeit anzugehen. „Man darf diese Jugend nicht für die Verbrechen des Nazismus verantwortlich machen, sondern muss ihr eine Chance geben“, sagte er einst. Er machte sich bereits direkt nach Kriegsende an den Aufbau einer württembergischen Jugendorganisation, um diesen Wunsch zu realisieren. Er arbeitete als Redakteur bei der Tübinger Jugendzeitschrift „Die Zukunft“ und führte bis in seine letzten Tage Rundfahrten mit dem Stuttgarter Stadtjugendring durch. Allen aufrechten Antifaschistinnen und Antifaschisten bleibt er unvergessen.
Es ist mir ein besonderes Anliegen, hier in Karlsruhe, auch an den Antifaschisten Karl Wagner zu erinnern. Sein Kampf war lang und zäh. Er verteilte im heute zu Stuttgart gehörenden Feuerbach den „Roten Bosch-Zünder“, eine Betriebszeitung der KPD, schon bevor er schließlich in dieser Partei Mitglied wurde. Als die führenden KPD-Funktionäre verhaftet waren, übernahm Karl mit anderen jungen Genossen die Verantwortung. Jetzt organisierten sie die Herausgabe und illegale Verteilung dieser Zeitung, bis Karl schließlich deswegen verhaftet wurde. Es folgten drei Monate KZ Heuberg, Entlassung, Wiederaufnahme der illegalen Arbeit, erneute Festnahme, Flucht in die Schweiz, Rückkehr nach Deutschland, wieder illegale Arbeit, Festnahme, „Moorsoldat“ im KZ Börgermoor, KZ Welzheim, KZ Dachau, KZ Mauthausen, dann wieder KZ Dachau. Zuletzt war er im KZ Buchenwald inhaftiert, wo er aktiv an dessen Selbstbefreiung mitgewirkt hatte. Als die Amerikaner das Lager in der Nacht vom 12. auf den 13. April 1945 erreichten, war das KZ längst in den Händen der Antifaschisten und die weiße Fahne war gehisst.
Die Faschisten benutzten für die Verwaltung der KZs sogenannte Häftlingsfunktionäre. Mancherorts beteiligten sich solche mit der SS am Schikanieren ihrer Mithäftlinge, nicht aber Karl. Er arbeitete als „Lagerältester“ im KZ Dachau mit der illegalen Lagerleitung zusammen, in der Häftlinge den Widerstand organisierten. Als die SS – um die Moral der Inhaftierten zu brechen – anordnete, Häftlingsfunktionäre sollten an ihrer Stelle die gefürchtete Prügelstrafe vollstrecken, beschloss die illegale Lagerleitung, dies müsse verweigert werden – ein lebensgefährliches Risiko. Aber Karl brachte den Mut auf. Als der SS-Lagerführer im Juli 1943 Karl vor dem versammelten Lager aufforderte einen sowjetischen Häftling zu schlagen antwortete er: „Ich schlage nicht!“ Für seine Standhaftigkeit wurde er von den Faschisten dann selbst halbtot geprügelt.
Als die Häftlinge beauftragt wurden, neue Gebäude zu bauen, die sachverständige Kameraden anhand der Pläne als eine Gaskammer und ein Krematorium identifizierten, beschloss die Lagerleitung, dies zu sabotieren. Wieder war es Karl, der als „Lagerkapo“ entscheidend zu dieser Sabotage beitrug. Die Baracke X, die geplante Gaskammer des KZ Dachau, wurde dank dieser Sabotage nie fertiggestellt.
Karl Wagner hat fast alle Gräueltaten, zu denen die Faschisten bereit waren, am eigenen Leibe erfahren, war in fünf verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert und war dort unvorstellbarem körperlichem und auch psychischem Terror ausgesetzt.
Was macht ein solcher Mensch nach der Befreiung von Krieg und Faschismus, nach der Überwindung all dieser Schrecken, die ihm widerfahren sind? Für Karl war die Antwort glasklar: Er machte sich wieder an die Arbeit, er machte dort weiter, wo sie angefangen hatten, bevor die Nazis sie in die Illegalität zwangen. Er nahm die Arbeit in seiner Partei wieder auf, wurde Betriebsrat bei Kast und Ehinger in Feuerbach, dann in der Pforzheimer Metallschlauchfabrik, kämpfte gegen die Remilitarisierung und war dann aufgrund des von der Adenauer-Regierung erwirkten Verbots der KPD zum zweiten Mal gezwungen, seine politische Arbeit in der Illegalität zu leisten. Neben der Tätigkeit für seine Partei engagierte er sich überdies in der VVN und in der Friedensbewegung.
Er starb am 8. Oktober 1983 an den Spätfolgen der Misshandlungen in den KZs.
Bis zu seinem Tod war er vor allem für viele junge Menschen gefragter Diskussionspartner und wertvoller Berater – und vor allem Vorbild.
Ein Vorbild, denn es waren Menschen wie Alfred und Karl, die von den Faschisten in die Illegalität gedrängt wurden, die in die KZs und Zuchthäuser gesperrt und zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden, zur Zwangsarbeit in Konzernen wie denen des Düsseldorfer Industrieclubs, in dem Hitler im Januar 1932 von Bankiers und Großindustriellen erst langanhaltenden Dauerbeifall erhielt und dann Gelder. Gelder, um sich den Wahlkampf zu finanzieren, Gelder, die dem Faschistenführer die Wähler geradezu zutrieben. Und als diese im Herbst 1932 zu Millionen wieder von ihm abfielen, da wandten sich die Bankiers, Schlotbarone und Krautjunker per Eingabe an den Reichspräsidenten Hindenburg mit der Aufforderung, ihren Trumpf im Ärmel doch nun endlich in das Kanzleramt zu schieben. Sie ließen erst die Gewerkschaften zerschlagen und dann Gesetze schaffen, nach denen im Betrieb das Führerprinzip zu etablieren war, mit der Konzernleitung als Führer des sogenannten „Betriebskollektivs“ und der Belegschaft als stumme und entrechtete Gefolgschaft. Sie führten den Krieg gegen die eigene Bevölkerung als immerwährenden Begleitton zum Krieg gegen die äußeren Feinde, die wirtschaftlichen Konkurrenten im Westen und den systemischen Gegner im Osten.
1945, nach der Zerschlagung des Faschismus in Deutschland, ergriff eine Erkenntnis die Antifaschistinnen und Antifaschisten aller politischen Lager: Die Erkenntnis, nie wieder getrennt gegen einen gemeinsamen Feind zu marschieren, der mit seinem politischen Terror nicht zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, christlich orientierten Nazigegnern oder Antifaschisten anderer Couleur unterscheidet.
Es waren Menschen wie Alfred und Karl, die sich diesen gemeinsamen Kampf auf die Fahne geschrieben haben, die sich weder den Mund verbieten noch ihre Rechte nehmen ließen. Sie kämpften immer konsequent gegen die Faschisten und die Kriegsambitionen der Herrschenden, für die Demokratie und das Recht auf ein Leben in Frieden. Und als in der frühen Bundesrepublik der damalige antifaschistische Konsens angegriffen und ausgehöhlt wurde, da standen sie an der Seite der Gewerkschaften, der Friedensbewegung, der werktätigen Bevölkerung – immer und überall gegen Krieg und Faschismus.
Alfred Hausser, Karl Wagner – nie haben sie sich irgendwelche Illusionen über den Charakter des deutschen Militarismus gemacht, weder unter dem Faschismus noch in der jungen Bundesrepublik – ich denke, sie würden es auch heute nicht tun! Ich denke, sie würden klipp und klar sagen, dass es deutsche Militärs waren, die in den Gebieten der damaligen Sowjetunion und denen des heutigen Ukraine-Krieges 27 Millionen Tote zu verantworten haben – Soldaten, Zivilisten, Familien mit Kindern. Dass es die deutsche Regierung ist, die vor diesem geschichtlichen Hintergrund prädestiniert dafür wäre, die Rolle des Verhandlers einzunehmen, die Rolle des Vermittlers und dass dort deutsche Waffen überhaupt nichts und wieder nichts verloren haben! Wir wollen Frieden für die Ukraine und keinen Zermürbungskrieg!
Liebe Kameradinnen und Kameraden,
liebe Freundinnen und Freunde,
obgleich wir auch heute mit Krieg konfrontiert sind – Krieg, den es schon damals zur Rettung der Großindustrie gebraucht hat –, obgleich wir auch heute mit Sozialabbau konfrontiert sind – Sozialabbau, den Alfred schon früh als Nährboden für den Faschismus verstand –, und obgleich wir auch heute mit Demokratieabbau konfrontiert sind – Demokratieabbau, der dem Jahr 1933 allseitig voranschritt und den Weg zur formal legalen Machtübertragung an die Faschisten schlussendlich ebnete –, so stehen wir alldem nicht vollends machtlos gegenüber. Wir haben die Gewerkschaften, wir haben die Friedensbewegung, wir haben das Recht, uns hier und heute zu versammeln, um zu gedenken und zu erinnern – und um zu mahnen, um nicht nur die Asche von Generation zu Generation zu tragen, sondern auch die Flamme.
Aber im Windschatten der Ampel-Politik nimmt mit der AfD gerade eine Partei an Fahrt auf, die gekonnt als Friedenspolitik verkauft, was in Wahrheit Strategien zur Entfesselung des deutschen Militarismus sind, die als Politik für den „kleinen Mann“ vermarktet, was in Wahrheit Politik für jene ist, die ihn kleinhalten wollen. Um das an dieser Stelle klar zu sagen: Wer bei der AfD nach Frieden sucht, der wird ebenfalls beim Krieg landen!
Die konkrete Gefahr der AfD besteht eben genau darin, dass sie geschickt das Protestpotenzial gegen die reaktionäre Politik der Ampel-Regierung auffängt und den Protest in sein Gegenteil verkehrt. Vor diesem Hintergrund ist es das Gebot der Stunde für alle Antifaschistinnen und Antifaschisten, die Kriegs- und Kahlschlagspläne der Regierung zu vereiteln – ohne dabei rechten Rattenfängern auf den Leim zu gehen. Es ist das Gebot der Stunde, eine selbstbewusste Opposition gegen diese Politik aufzubauen, die den Protest nicht den rechten Demagogen überlässt. Antifaschismus heißt eben auch, immer und überall gegen Krieg und Sozialabbau zu sein – völlig egal, wer ihn gerade betreibt.
Liebe Kameradinnen und Kameraden,
liebe Freundinnen und Freunde,
für uns als VVN-BdA ist der Antifaschismus keine bloße Reaktionstendenz, er ist Zukunftsentwurf. Er ist der im Schwur von Buchenwald sich manifestierende Traum von einer Welt des Friedens und der Freiheit, einer Welt, in der die Völker zusammenstehen, einer ihnen gehörenden Welt, ohne Krieg und Wirtschaftskrieg.
Für uns als VVN-BdA ist der im Schwur von Buchenwald formulierte Auftrag die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln. Deswegen war auch der antifaschistische Konsens, auf dessen Basis unsere Organisation gegründet wurde:
- Die Entnazifizierung, denn mit dem Faschismus muss sowohl ideologisch als auch politisch als auch personell in jeder Hinsicht gebrochen werden
- Die Entmilitarisierung, nicht nur des Staates, sondern auch des gesamten öffentlichen Lebens
- Die Entmonopolisierung, das heißt die Zerschlagung der Machtzentren, die den Faschismus haben wollten – und die Wiederaufnahme der Arbeit nur noch im Interesse der Bevölkerung
Dies ist das politische Erbe von Alfred und Karl, das es wachzuhalten gilt – den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung.