Vom „Partner der Welt“ zur Festung Europa

geschrieben von Gisela Kehrer-Bleicher

19. April 2024

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Zur Geschichte der Asylpolitik der europäischen Union

Nach dem Ende des 2.Weltkriegs und der Befreiung vom Faschismus war der Wunsch nach friedlichem Zusammenleben in einem einheitlichen Europa in allen Ländern vorhanden. Erste Planungen von westeuropäischen Regierungen und der westlichen Alliierten für eine verstärkte Zusammenarbeit fanden deshalb schnell Zustimmung. Für die westeuropäischen Staaten stand zunächst der Wunsch nach freiem Warenaustausch und Wirtschaftsförderung im Vordergrund. Die USA wollten sich den europäischen Absatzmarkt für ihre Industrie sichern. Frankreich war vor allem an dauerhafter Sicherheit vor einem wieder erstarkten Deutschland interessiert und wollte sich vor allzu starker wirtschaftlicher Konkurrenz schützen. Alle zusammen wollten ein „gemeinsames Bollwerk gegen den Kommunismus“ schaffen. Doch es gab auch Kritik an einer Abschottung Europas, die beispielsweise der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors vehement zurückwies: „Europa ist keine Festung, sondern Partner der Welt“.

Nach Schaffung und Ausbau der Wirtschafts- und Zollunion vollendete der Vertrag von Maastricht 1993 die politische Union. Nun sollte auch die Asyl- und Einwanderungspolitik Europaweit geregelt und die Kontrollen an den Außengrenzen angeglichen werden. Verbindliche Regelungen zum Asylanspruch und Asylverfahrensrecht wurden in den folgenden EU-Verträgen, insbesondere im Lissabon-Vertrag aufgenommen. Dieser schrieb ab 2009 die gemeinsame und vertiefte Außen-, Sicherheits-und Verteidigungspolitik fest, d.h. eine weit reichende Militarisierung der EU. Dazu kam die Verpflichtung der Staaten, ihre „militärischen Fähigkeiten zu verbessern“, also zur Aufrüstung. Mit der Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) wurde der Schritt hin zu einer europäischen Armee vollzogen und die EU endgültig zur Militärmacht.

Die verstärkte Integration, die Freizügigkeit im Innern und der Wegfall der Grenzkontrollen sollte durch eine gemeinsame Politik gegenüber Nicht-EU-Bürgern an den Außengrenzen kompensiert werden – zum „Schutz und Erhalt der europäischen Lebensweise“. Deshalb legte der Lissabon-Vertrag auch die gemeinsame EU-Politik im Bereich Asyl und Einwanderung fest.

Art. 78 versichert zwar, dass „jedem Drittstaatsangehörigen der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Schutz angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden muss“. Diese Zusage wird jedoch in Art. 79 wieder eingeschränkt, um  „… eine wirksame Steuerung der Migrationsströme … sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandeln“ zu gewährleisten.  Das Tor für weitere Restriktionen und den europaweiten Abbau des Asylrechts war geöffnet.

Abschottung und Flüchtlingsabwehr mit gemeinsamer Grenzpolitik

Abschottung und Flüchtlingsabwehr an den EU-Außengrenzen sind inzwischen traurige Realität der gemeinsamen EU-Politik. Um Fluchtwege zu schließen hat die EU an ihren 12 000 km Land- und 45 000 km Seegrenzen ein Bollwerk errichtet. Primat der Politik ist Abschreckung – in immer aggressiverer Form.

Das Dublin-Abkommen legt fest, dass derjenige EU-Staat, in den die Geflüchteten als erstes eingereist sind, für die Durchführung des Asylverfahrens verantwortlich ist. Den Ländern an den EU-Außengrenzen wird damit die Verantwortung zugeschoben. Sie müssen die größte Last tragen und werden motiviert, Geflüchtete abzuwehren oder schlecht zu behandeln. Infolgedessen sitzen sie an Grenzen fest oder versuchen, in andere europäische Staaten weiter zu fliehen und irren oft jahrelang durch Europa. In der Flüchtlingsabwehr verhalten sich die wirtschaftlich starken Staaten – allen voran Deutschland – innerhalb der EU genauso unsolidarisch wie gegenüber den Schutzsuchenden. Griechenland hat kein funktionierendes Asylsystem und ist seit Jahren durch die schwere ökonomische und soziale Krise selbst enorm belastet. Die Bilder von den katastrophalen Zuständen in den Lagern auf den griechischen Inseln haben die Menschen europaweit immer wieder erschüttert – aber keine Änderung der unsolidarischen Abschottung bewirkt.

Als gemeinsames Instrument zur Abschottung der EU-Außengrenzen wurde 2005 die Grenzagentur Frontex geschaffen. Diese wurde und wird mit einem jährlich steigendem Budget aus dem EU-Haushalt ausgestattet – für 2024 sind 922 Millionen eingeplant.  An den Grenzen sind Rund 3.000 bewaffnete Beamte nicht nur für Überwachung und Kontrolle zuständig, sie werden auch bei Abschiebungen eingesetzt. Zur Aufklärung werden Drohnen und Überwachungsflugzeuge eingesetzt. Noch bevor die Boote der Geflüchteten internationale Gewässer erreichen, können sie von Frontex-Beamten identifiziert und an die libysche Küstenwache gemeldet werden.

Immer wieder wird auch über die Beteiligung von Frontex-Mitarbeitern an Push-Back-Aktionen berichtet. Dabei werden Geflüchtete hinter den Grenzzaun oder aufs Meer gedrängt, bevor sie die Möglichkeit haben, um Asyl zu ersuchen. Diese unmenschliche Praxis unter Beteiligung der EU verletzt die Bestimmungen der Genfer Konvention. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verbietet, Geflüchtete in die Länder zurückzubringen, aus denen sie geflohen sind.

Der Landweg nach Mitteleuropa, die sogenannte Balkanroute, ist inzwischen fast vollständig abgeriegelt, weil alle Länder ihre Grenze mit meterhohen und durch Polizei gesicherte Zäune dicht gemacht haben. Auch Deutschland hat an den Grenzen zu Polen, Österreich und der Schweiz wieder feste Grenzkontrollen eingeführt, die auf unbestimmte Zeit verlängert wurden. Für die meisten Flüchtlinge bleibt somit nur noch die gefährliche Route über das Mittelmeer. Fast 30 000 Menschen ertranken seit 2014 auf der Flucht; im Januar 2024 fanden bereits 110 Menschen den Tod im Meer.

Zur Abwehr der Schutzsuchenden und für die verstärkte Kontrolle und Überwachung im Mittelmeerraum installierte die EU das Seeüberwachungssystem Eurosur. Hunderte Millionen Euro werden für Satelliten, Sensoren, Drohnen und Ausrüstung der Polizei eingesetzt.

Als in den Jahren 2013-14 immer mehr Menschen bei ihrer Flucht im Mittelmeer ertranken, baute Italien die staatliche Seenotrettung Mare Nostrum aus. Weil die EU sich nicht an den Kosten beteiligte, fühlte sich Italien im Stich gelassen und stellte diese Hilfe ein. Seither versuchen NGO’s, mit privater Seenotrettung Ersatz für unterlassene staatliche Hilfeleistung zu stellen – mit viel zu geringen finanziellen Mitteln und oft direkter Behinderung bei ihrer Arbeit durch staatliche Stellen, z.B. durch das Verbot in Häfen anzulegen.

Zur „Schleuserbekämpfung“ finanziert die EU Ausbildung und Ausstattung der libyschen Küstenwache: Milizen, die Menschen auf der Flucht auf dem Meer abfangen. Diese verschwinden dann in libyschen Internierungslagern, erleiden oft Hunger, Folter und Vergewaltigung, müssen Zwangsarbeit leisten, werden zu Lösegeldforderungen an die Angehörigen erpresst oder in die Wüste deportiert. Gelder, die von der EU zur Verbesserung der Situation in den Lagern kamen, gingen oft ebenfalls an die Milizen. Die EU macht sich mitschuldig an dieser katastrophalen humanitären Notlage.

Um auch den Weg über das Mittelmeer einzuschränken wurde die Abwehr der Schutzsuchenden bereits in die Herkunfts- oder Transitländer verlegt. In bilateralen Abkommen wird Entwicklungshilfe gegen Flüchtlingsabwehr gewährt, die sogenannten Drittstaaten werden nach dem Ruanda-Modell als Türsteher zur EU instrumentalisiert.

Mit einer Vielzahl von Ländern schloss die EU bilaterale Abkommen, 2016 beispielsweise das Rücknahme-Abkommen mit der Türkei, die dafür millionenschwere Finanzzusagen und erhielt und der EU-Beitritt in Aussicht gestellt wurde. Weitere Abkommen einzelner Staaten gibt es z.B. mit Albanien, Marokko, Tunesien. 2015 vereinbarte die EU ein Abkommen mit Niger, um die Migration in Richtung Libyen und damit Europa zu stoppen. Die EU finanzierte dafür den Sicherheitsapparat und die Aufrüstung des afrikanischen Staats. Nach dem Militärputsch im letzten Jahr setzte die regierende Junta das Abkommen außer Kraft.

EU heute: Militär- und Sicherheitsunion

Alle EU-Staaten sehen inzwischen Migration als Bedrohung an; deren Kontrolle und Bekämpfung wurde deshalb militärisch ausgebaut. Zur Überwachung, Aufklärung und Datenanalyse wird Militärtechnik eingesetzt, mit gepanzerten Fahrzeugen, Langstreckendrohnen, Schallkanonen, Aerostate (eine Art Zeppelin) etc. an den Grenzen aufgerüstet.

Die 2003 beschlossene „EU-Sicherheitsstrategie“ war die Grundlage für verstärkte zivil-militärische Zusammenarbeit. Im Rahmen der Europäische Verteidigungsagentur (EVA) wurden gemeinsame Rüstungsplanung, -forschung und -beschaffung vorangetrieben. 2016 wurde die EU mit der „Globalen Strategie“ endgültig zum globalen Sicherheitsakteur und richtete den Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) zur Finanzierung gemeinsamer Rüstungsforschung und -entwicklung ein. Der EVF verfügt über ein Gesamtbudget von 7,9 Mrd. für den Zeitraum 2021-2027. Zuständig ist EU-Kommissar Thierry Breton, der ehemalige CEO der Rüstungsfirmen Thales und ATOS. Ein Aktionsplan regelt seit 2021 die Nutzung von Forschungsergebnissen der zivilen Industrie und soll Synergien zwischen ziviler und Verteidigungs- und Weltraumindustrie ermöglichen. Weitere Mittel für Forschungs- und Innovationsprojekte im Bereich „Management der Außengrenzen“ können aus dem mit 95 Milliarden Euro gut gefüllten EU-Forschungsrahmenprogramm „Horizont Europa“ abgerufen werden.

International tritt die EU heute als wichtiger Player im globalen Kampf um Hegemonie auf. Ziel der gemeinsamen und immer aggressiver auftretenden Außenpolitik der Union ist die Sicherung von politischen und wirtschaftlichen Einflusssphären und Absatzmärkten innerhalb der sich verschiebenden globalen Machtordnung hin zu einer multipolaren Welt. Dabei sind auch Militäreinsätze kein Tabu mehr. Die militärische Eskalation kennt keine Grenzen, wie der aktuelle Militäreinsatz im Roten Meer und die Debatte über gemeinsame nukleare Waffen zeigen.

Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen finden in allen Staaten der Union rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien vermehrt Unterstützung. Schutzsuchende Menschen werden zum willkommenen Sündenbock erklärt. Mit der sogenannten „Flüchtlingsproblematik“ gelingt es den Regierungen bisher erfolgreich, von den Krisenursachen und ihrer verfehlten Politik abzulenken. Einer Politik, die Geflüchtete bekämpft und nicht Fluchtursachen, welche die Einhaltung der Menschenrechte nur von andern einfordert, während sie das Recht auf Asyl völlig aushöhlt und mit ungerechter Handelspolitik, Kriegen und Sanktionen ständig neue Fluchtursachen schafft.

Die Kritik an dem globalen Anspruch der „Festung Europa“, die unmenschliche Zurückweisung Schutzsuchender und Militarisierung an den Außengrenzen, die parallel dazu erfolgende Militarisierung und die Rechtsentwicklung innerhalb der EU selbst – dies sollten für alle Friedenskräfte und Antifaschist*innen wichtige Themen im Europawahlkampf sein. Schutz der Menschenrechte heißt vor allem auch Solidarität mit den Menschen auf der Flucht, Unterstützung von Aktionen gegen das Rückführungsverbesserungsgesetz, gegen „Abschiebungen im großen Stil“ (Kanzler Scholz) und gegen die Einrichtung von Haftlagern an den EU-Außengrenzen im Zuge des GEAS (Gemeinsames Europäisches Asylsystems). Die VVN-BdA ist und bleibt Teil dieser Bewegung.