Deutschland auf dem Weg zur Kriegstüchtigkeit
29. Oktober 2024
„Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg“ schworen die überlebenden Widerstandskämpfer nach der Befreiung des KZ Buchenwald. Ihr Vermächtnis an die nachfolgenden Generationen ist bis heute Leitlinie für die VVN-BdA und machte unseren Verband zum zuverlässigen Bündnispartner im gemeinsamen Kampf gegen Faschismus und Krieg.
Die Zeiten des „Kalten Krieges“ schienen überwunden, doch im Gefolge von globalen Krisen und geopolitischen Umbrüchen verschärften sich erneut politische Konfrontationen und militärische Eskalation. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine tobt mitten in Europa ein Stellvertreterkrieg mit bereits Hunderttausenden Toten. Durch immer mehr Waffenlieferungen und dem Verweigern von Diplomatie und Verhandlungen wird er am Laufen gehalten, das sinnlose Sterben verlängert, die völlige Zerstörung der Ukraine in Kauf genommen und die NATO-Staaten immer stärker zu direkten Kriegsbeteiligten.
Im Nahen Osten hat der Krieg in Gaza zu einer humanitären Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes mit zehntausenden getöteten Palästinenser*innen, zur fast kompletten Zerstörung der zivilen Infrastruktur geführt und droht sich zum Flächenbrand in der ganzen Region auszuweiten.
Die Gefahr eines globalen Krieges wächst täglich, nicht zuletzt angesichts verschärfter Konfrontation und fortgesetzten militärischen Provokationen des Westens gegenüber China. So manövrieren jetzt bereits deutsche Kriegsschiffe vor der südchinesischen Küste.
Das in Deutschland und in den NATO-Staaten herrschende Narrativ zum Ukrainekrieg geht von der alleinigen Schuld Russlands aus. Ausgeblendet wird die Osterweiterung der NATO, die jahrelange Aufrüstung und militärische Stützpunkten, die immer näher an die russischen Grenzen rückten. Die berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands wurden und werden negiert, russische Warnungen vor dem Überschreiten roter Linien nicht ernst genommen. Verantwortungslos gegenüber der eigenen Bevölkerung und der globalen Gemeinschaft und in vollem Bewusstsein der katastrophalen Folgen steuert die NATO immer mehr auf einen direkten Kriegseintritt zu.
Kanonen statt Butter
Vor dem Hintergrund lange vorbereiteter Aufrüstungspläne rief Bundeskanzler Scholz im Februar 2022 die „Zeitenwende“ aus und leitete umfassende Kriegsvorbereitungen ein. Dem Primat von Militär und Kriegstüchtigkeit wird nun die gesamte Gesellschaft untergeordnet werden. Weitere Milliarden für den Ukrainekrieg und bereits fest eingeplante neue Waffensysteme belasten den aktuellen und zukünftige Haushalte und unsere nachfolgende Generation immens. Mit dem „Operationsplan Deutschland“ soll die gesamte Infrastruktur auf Krieg umgestellt werden, weitreichende Vorgaben für die zivil-militärische Zusammenarbeit wurden festgelegt: Umbau der Wirtschaft zur Kriegswirtschaft, Ausbau der Verkehrsinfrastruktur unter militärischen Gesichtspunkten, Vorrang für Militärtransporte, Bau von Schutzräumen. Die dringend benötigten Mittel für Aufgaben im Sozialen, Bildung, Infrastruktur und Klimarettung fehlen, weil in diesem Jahr 90 Mrd. € für Bundeswehr und die Rüstungsindustrie ausgegeben werden. Der Sparpolitik im Sozialen ist bereits die Kindergrundsicherung zum Opfer gefallen, Kürzungen beim Bürgergeld und den Renten sind schon fest eingeplant. Die dramatische Unterfinanzierung der Kommunen wird weiter verschärft und zu massiven Einschränkungen und dem Abbau der sozialer und kulturellen Infrastruktur in den Städten und Gemeinden führen. „Kanonen statt Butter“ soll künftig im Mittelpunkt der antisozialen deutschen Politik stehen.
Diese Politik verursacht Entsolidarisierung, befördert autoritäre und undemokratische Entwicklungen und treibt den Rechtsruck weiter voran. Rechte und neofaschistische Parteien profitieren davon. Der AfD als demagogischer Wolf im Schafspelz gelingt es sich als einzige Opposition und Friedenspartei zu inszenieren. In Wirklichkeit unterstützt sie im Bundestag alle Aufrüstungsbeschlüsse und fordert in ihren Programmen „eine starke Armee“, die mit „deutlich mehr Mitteln ertüchtigt“ wird.
Die verheerenden Folgen von Rüstung, Militär und Kriegen für Umwelt und Klima werden im öffentlichen Diskurs ausgeblendet. Der ehemalige Betriebsseelsorger Paul Schobel setzte dies beim diesjährigen Antikriegstag in Stuttgart wieder auf die Tagesordnung von Friedens- und Klimabewegung: „Alle Bemühungen, Umwelt und Klima zu schützen, werden angesichts der Kriege der Lächerlichkeit preisgegeben, denn der Krieg ist die größte Umweltsau. Allein Rüstung und Militär verursachen weltweit 6% der CO2-Emmissionen – doppelt so viel wie der internationale Flugverkehr. … In den 6% sind die eigentlichen Kampfhandlungen, die kolossalen Zerstörungen und erst recht der Wiederaufbau noch gar nicht erfasst.“
Militarisierung im Innern wird mit verschärften Polizeigesetzen und erweiterten Befugnissen für den Verfassungsschutz in erschreckendem Maß vorangetrieben. Heimliche Wohnungsdurchsuchungen, KI-gestützte Überwachung und der Abgleich mit ausländischen Geheimdiensten werden ermöglicht. Zusammen mit Veranstaltungs- und Versammlungsverboten wird so Demokratieabbau betrieben. Die alarmistische Debatte um „Innere Sicherheit“ ist zur pauschalen Hetze gegen Flüchtlinge abgeglitten, bei der Migranten pauschal als islamistische Terroristen verdächtigt werden. Statt Kriege zu beenden und damit die häufigsten Fluchtursachen zu beseitigen, werden Grenzen geschlossen und abgeschoben, bereits hier lebende Geflüchtete durch Bezahlkarten diskriminiert und ins soziale Abseits gestellt. CDU und Regierungskoalition greifen Forderungen der AfD auf und höhlen das Asylrecht in erschreckendem Tempo weiter aus.
Einziger Profiteur dieser Entwicklungen ist die Rüstungsindustrie, die Rekordgewinne einfährt. Rheinmetall steigerte laut Handelsblatt vom 8.8.24 den Umsatz allein im 2. Quartal 2024 um 49% auf 2,2, Milliarden €, der Gewinn stieg sogar um 110% auf 270 Millionen €. Neue Aufträge in Höhe von 48,6 Milliarden liegen bereits vor. Im Entwurf zur „Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsstrategie“ will die Bundesregierung den Umbau zur Kriegswirtschaft vorantreiben und mit Abnahmegarantien und langfristigen Verträgen „die Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz“ der Rüstungsindustrie stärken.
Die Bundeswehr braucht Nachwuchs und möchte diesen auch verstärkt in Schulen werben. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht, zunächst in „freiwilliger“ Form, soll der Bundeswehr mehr Soldat*innen sicherstellen.
Militärische Forschung bekommt Vorrang gegenüber ziviler und soll auch im Bereich der Universitäten verstärkt gefördert und noch vorhandene Zivilklauseln beseitigt werden.
Dem Militär wieder ein fester Platz in der Mitte der Gesellschaft eingeräumt. Zu Ehren von Soldat*innen, also von Menschen, die nicht nur zum Töten ausgebildet werden, sondern in Kriegen dazu bereit sind, wurde ein Veteranentag eingeführt. Im Sommer wurde ein Versuch gestartet, um im Traditionserlass der Bundeswehr die Traditionen der Naziwehrmacht wieder zu beleben. Angesichts heftiger Proteste wurden diese Pläne (zunächst?) zurückgezogen.
Damit die ganze Bevölkerung kriegstüchtig wird, wurde das alte Feindbild Russland erfolgreich wiederbelebt. Gegen das herrschende Narrativ vom Krieg für westliche Werte, vom „Krieg der Guten gegen das Böse“ wird kein Widerspruch geduldet. Kriegsgegner*innen werden als „Putin-Propagandisten“ diffamiert und kriminalisiert.
Deutschland wird zum potentiellen Angriffsziel
Fast beiläufig gab Bundeskanzler Scholz im Juli bekannt, dass die USA ab 2026 neue Raketensysteme in Deutschland stationieren werden. Diese hoch riskanten Pläne wurden in einer Gemeinsamen Erklärung beider Regierungen veröffentlicht, ohne vorherige öffentliche Diskussion und ohne einen Beschluss des Bundestages. Die Ankündigung kam unerwartet und wurde mit einer Fähigkeitslücke gegenüber Russland begründet, war aber lange vorbereitet. Bereits 2021 hatten die USA in Wiesbaden eine Taskforce für die Führung und den Einsatz der neuen Raketensysteme eingerichtet. Die Nachrüstung umfasst neue konventionelle Mittel- und Langstreckenwaffen (M6-Raketenabwehrsysteme, Tomahawk-Marschflugkörper, Hyperschallgleiter), die auch atomar umgerüstet werden können. Mit diesen weitreichenden Systemen sind Ziele in Russland bis weit nach Moskau wieder erreichbar, mit einer sehr geringen Vorwarnzeit. Die permanente Bedrohung durch einen „Enthauptungsschlag“ der NATO kann leicht zu Fehlalarmen und zum Start von Atomraketen als Gegenschlag führen und erhöht die Gefahr eines auch atomar geführten Krieges mitten in Europa. Deutschland wird zur Zielscheibe, denn die Raketen treffen dann nicht die USA, sondern die US-Raketenstandorte in Deutschland.
Im Unterschied zur Mittelstreckenstationierung der 80er Jahre (NATO-Doppelbeschluss) ist der aktuelle US-Beschluss auch nicht mit einem Rüstungskontrollvorschlag zur Reduzierung des russischen Raketenpotenzials verknüpft, somit wird keine Verhandlungsoption aufgezeigt.
Nicht nur Russland reagiert scharf auf diese Bedrohung. Heftige Kritik kommt auch von erfahrenen deutschen Militärs. Der ehemalige Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser, ehem. Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium wies u.a. darauf hin, dass „Kein anderer Bündnispartner in Europa bereit ist, „diese Waffensysteme auf seinem Territorium zu dislozieren und die damit verbundenen Risiken einzugehen.“
Rückkehr zu Diplomatie und Verhandlungen
Bisher war in der Ukraine-Politik des Westens keine Exit-Strategie erkennbar. Die internationale Unterstützung bröckelt jedoch schon lange und der Druck für Rückkehr zur Diplomatie und Verhandlungen wächst. Während die USA bereits ankündigten, ihr Engagement zurückzufahren, haben EU und Deutschland der Ukraine nochmals weitere militärische Unterstützung in Milliardenhöhe zugesichert. Doch die Unterstützung für den Kriegskurs der Ampel schwindet. Mit dem Aufruf „Mehr Diplomatie wagen“ fordern prominente Sozialdemokraten eine Umkehr. Gewerkschafter werden aktiv gegen Aufrüstung und Sozialabbau. Und inzwischen zeigt sich auch Kanzler Scholz für die Aufnahme von Verhandlungen offen.
Gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen gingen in den 80er Jahren Millionen Menschen auf die Straße. Davon sind wir heute leider weit entfernt. Hoffnung gibt die Tatsache, dass sich in Umfragen rund 2/3 der Bevölkerung für Verhandlungen und Waffenstillstand aussprechen. Der Friedensbewegung muss es gelingen, diese Menschen zu erreichen und für gemeinsame Aktionen auf der Straße zu mobilisieren. Dazu braucht es auch die VVN-BdA, die aktive Mitarbeit ihrer Mitglieder und unsere historischen Erfahrungen mit dem Zusammenhang zwischen Kriegsvorbereitung, autoritärem Staatsumbau und Rechtsruck.