Die soziale Frage stellen

geschrieben von A. Cipriano

19. April 2024

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Stuttgarter Bündnis – Mehr Personal für unsere Krankenhäuser

Und im November dann der „Wumms“: Das Bundesverfassungsgericht kippt den zweiten Nachtragshaushalt 2021 der Ampel-Koalition. Plötzlich fehlen 60 Milliarden Euro – für Finanzminister Christian Lindner eine Blamage, die dem Image der wirtschaftsliberalen FDP bestimmt nicht sonderlich guttut. Jetzt dreht sich im Bundestag alles um mögliche Lösungen für das Problem. Dabei steht die Regierung sicherlich vor keiner leichten Aufgabe: Kürzungen bei Bildung und Forschung, Wohnen- und Stadtentwicklung, auch bei der Gesundheit, all das sieht der neue Haushaltsplan vor. Die Heilige Kuh „Rüstung“ bleibt davon unberührt. Forderungen nach einem 300 Milliarden-Paket für die Bundeswehr sowie der dauerhaften Ausklammerung von Kriegsausgaben aus der Schuldenbremse sind beständiger Teil dieser Diskussionen.

Von der Politik hört man andauernd, die Bundeswehr sei über Jahre hinweg „kaputtgespart“ worden, ihr fehle es folglich an grundlegendster Ausrüstung. Wer aber dem Märchen der kaputtgesparten Streitkräfte nicht auf den Leim geht und stattdessen meint man könne für die Abermilliarden an Sonderausgaben besser Verwendung finden, muss leider mit der Realität konfrontiert werden: Ein 100-Milliarden-Paket für Soziales könnte es gar nicht geben. Schließlich kommt die Knete nicht aus den Steuereinnahmen des Bundes, sondern es handelt sich um Schulden – Schulden, die die Bundesrepublik bei Banken und Investoren aufnehmen muss. Damit diese das Spiel dann auch mitspielen, muss es sich eben um ein rentables Geschäft handeln, und dass etwa Gesundheitsversorgung und Krankenpflege bedauerlicherweise – im Gegensatz zu Aufrüstung und Krieg – kein lukratives Business sind, wissen die Finanzexperten natürlich.

Doch dummerweise sitzt keiner von ihnen im Gesundheitsministerium. Ein ständig wachsender Teil deutscher Krankenhäuser kann sich kaum noch aus einem ständig schrumpfenden Budget finanzieren und ist somit dazu verdonnert, nach dem Profitprinzip zu wirtschaften und private Investoren anzulocken. Das Resultat lautet: massive Arbeitszeitverdichtung für die Belegschaft, Einbußen bei der Behandlungsqualität für die Patienten und ein drastisches Kliniksterben gerade in ländlichen Gegenden. Die Politik setzt auf neoliberale Wirtschaftsprinzipien, etwa durch das Fallpauschalensystem, Patienten müssen immer schneller wieder entlassen werden, die Pflege wird zur Akkordarbeit, Kranke müssen wie am Fließband behandelt werden. Ähnlich prekär sieht es im Bildungssystem aus: Laut Prognosen der Kultusministerkonferenz fehlen bis 2035 sage und schreibe 68.000 Lehrkräfte. Deutsche Schüler haben zudem bei der letzten Pisa-Studie so schlecht wie noch nie abgeschnitten. Im EU-Vergleich verzeichnet das Land der Dichter und Denker die vierthöchste Quote an Schulabbrechern – und der akademische Erfolg hängt immer noch stark vom Geldbeutel der Eltern ab.

Und wie steht es um die Infrastruktur? Verspätungen, Streckensperrungen, Zugausfälle bilden schon seit Jahren nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel im Personenverkehr. Oftmals ist der desolate Zustand des Bahnsystems gar nicht auf wirkliche Sachzwänge zurückzuführen, sondern hängt mit der Privatisierungspolitik und Zerschlagung der Bahn zusammen. Die Ticketpreise steigen antiproportional zum Reisekomfort und werden für immer mehr Menschen kaum bezahlbar. Während der Zeit des 9-Euro-Tickets konnte man sehen, dass Schienennetz und Zugaufgebot überhaupt nicht dafür ausgelegt sind, allen Bürgern zur Verfügung zu stehen. Und so wurden aus neun Euro dann 49 Euro – weitere Preiserhöhungen sind zu erwarten.

Während die Kosten für Mobilität, Kultur und Freizeit immer weiter steigen, sinkt das Realeinkommen großer Teile der Bevölkerung. Im Dezember 2022 konnte die „Fortschrittskoalition“ noch damit prahlen, einen schöner anmutenden Begriff für Hartz-IV gefunden zu haben, ist aber seitdem darum bemüht, ihn mit immer asozialerem Inhalt zu füllen. So gab die Ampel im Januar laut Berichten der jungen Welt grünes Licht für einen Gesetzentwurf von Arbeitsminister Hubertus Heil, nach dem die Sozialhilfe für sogenannte „Arbeitsverweigerer“ auch komplett gestrichen werden könnte. Das wäre sogar gegenüber den alten Hartz-IV-Regelungen eine drastische Verschärfung. Was der Bevölkerung von der Regierung bisher als Entlastung zugutekam, 9€-Ticket, Heizkostenzuschuss, Einmalzahlungen, war genauso schnell wieder vom Tisch, wie es eingeführt wurde – und hatte nebendran noch den sicherlich gewünschten Effekt, den laufenden Tarifkämpfen ordentlich Wind aus den Segeln zu nehmen. Gewerkschaften werden dennoch vielerorts offensiver, wenn es um die Erhaltung der Lohnstandards geht, doch können die errungenen Gehaltserhöhungen kaum mit dem Tempo der Geldentwertung mithalten. Und selbst wo das gelingt, steigen unverhältnismäßig die Extraprofite auf der Gegenseite, sinkt also dennoch der eigene Anteil an dem selbsterwirtschafteten Reichtum drastisch.

Doch die Zahnräder der bundesrepublikanischen Umverteilungsmaschinerie entfalten auch weit über die nationalen Grenzen hinaus ihre von oben gewollte Wirkung. Spätestens zum Millenniumswechsel konnte Berlin die Vormachtstellung innerhalb der Europäischen Union erringen. Heute steht die EU unter klarer Dominanz deutscher Interessen. Mit den Hartz-Gesetzen wurde in Deutschland ein gewaltiger Niedriglohnsektor etabliert, der dank der Kapitalverkehrsfreiheit innerhalb der Union europaweites Lohndumping forciert. Während weite Teile der deutschen Bevölkerung in eben diesem Niedriglohnsektor beschäftigt sind, profitiert die Bundesrepublik ebenso von der schlechteren wirtschaftlichen Stellung anderer EU-Staaten – und weil die vergleichsweise hoch entwickelte deutsche Industrie nun durch Lohndrückerei noch zusätzlich ihre Profite maximiert, können viele andere EU-Staaten schlichtweg nicht mithalten. Ihre werktätige Bevölkerung ist dann zumindest in Teilen dazu gezwungen, sich in den deutschen Arbeitsmarkt zu begeben. Dadurch entsteht ein Teufelskreis, in dem Länder der EU-Peripherie die Bildungs- und Ausbildungskosten ihrer Bevölkerung zu tragen haben, während das Potenzial, das dort gesät wurde, dann in der Bundesrepublik geerntet wird.

Um dieses Abhängigkeitsverhältnis aufrechtzuerhalten, scheuen weder Brüssel noch Berlin vor drastischen Maßnahmen zurück – das konnte man zum Beispiel 2015 sehen. Die Griechen hatten sich nach deutscher Einschätzung an der Urne verwählt, das Linksbündnis Syriza gelangte an die Regierung. Die EU eröffnete einen regelrechten Wirtschaftskrieg mit dem Ziel, Griechenland finanziell auszubluten. Obendrein wurde die Linksregierung für das Fiasko verantwortlich gemacht, obwohl die ehemaligen nominell sozialdemokratischen und Rechtsregierungen die Staatsverschuldung verursacht hatten. Am 5. Juli entschied die griechische Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit, sich nicht länger dem Diktat von EU und IWF zu beugen. Brüssel, Berlin und Paris konterten mit einem De-facto Staatsstreich. Während Ministerpräsident Alexis Tsipras seine Partei von linken Kräften säuberte und einen neuen Finanzminister installierte, diktierte Frankreich diesem gleich die neue Wirtschaftspolitik. Deutschland ermutigte die Oppositionsparteien zur Unterstützung der nun zur Minderheitsregierung gewordenen, dafür aber brüsseltreuen Rest-Syriza. Weitere Austeritätspakete wurden angeordnet. Ein Europa des Friedens? Zumindest nicht des sozialen.

Hierzulande wird die Praxis, benachbarte Nationen über den Tisch zu ziehen, ideologisch verklärt: Die Handelsfreiheit, die gleichbedeutend ist mit der Beschneidung des Rechts eines Staates, die wirtschaftliche Betätigung selber zu kontrollieren, würde allen Ländern nützen, zugewanderte Arbeitskräfte könnten durch Geldtransfer in die Heimat die dortige Wirtschaft ankurbeln. Außerhalb Deutschlands weiß man aber: Geldzufluss schafft keinen Reichtum, sondern Abhängigkeit. Und wirtschaftliche Unabhängigkeit kann es nur dort geben, wo ein Land über seine Ökonomie selbst verfügt. All das konterkariert die EU aber grundsätzlich. Gesetze zur Vereinheitlichung und Regulierung der Märkte, Produktions- und Produktstandards sowie Finanzpolitik richten sich in erster Linie nach den Interessen der deutschen Industrie – Bevölkerung hintangestellt, ebenso ausländische Konkurrenten.

An der Marktwirtschaft der Bundesrepublik ist gar nichts mehr sozial. Stand sie bis 1989 noch unter dem Druck der Systemkonkurrenz und konnte sie in den Folgejahren durch die wirtschaftliche Stimulation, die der Zugang zu neuen Märkten erzeugte, immerhin noch den Anschein eines zukunftsträchtigen Modells erwecken, so ist sie seitdem einem regelrechten Wegblättern aller noch vorhandenen Restbestandteile eines sozialen Anstrichs ausgesetzt. Die Wirtschaftspolitik der Parlamente in Brüssel und Berlin ist eine rechte Politik. Es gelingt zurzeit weder den fortschrittlichen Akteuren an der Basis der Regierungsparteien noch der linken Opposition, daran etwas zu ändern. Umso wichtiger ist es, sie dadurch zu unterstützen, dass wir auch die soziale Frage im EU- und Kommunalwahlkampf in den Blick rücken und Druck auf die Parlamente in Brüssel und Berlin aufbauen – auch nach der Wahl.