Die Zerrissenheit des Pluralismus aufheben

geschrieben von Michael Dandl

19. April 2024

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Gleichschaltung in der nordbadischen Kleinstadt Walldorf

Andy Herrmann, Sprecher der Kreisvereinigung Heidelberg der VVN-BdA, vermittelt in seinem fast 200 Seiten starken Buch „Walldorf im Nationalsozialismus“ ein plastisches Bild davon, wie der 1933 an die vollständige Staatsmacht gehievte deutsche Faschismus auch diese nordbadische Kleinstadt gewaltsam „gleichschaltete“. Andy lebt seit seiner Geburt in Walldorf und forscht seit Jahren zur Geschichte dieses heute ca.16.000 Einwohner:innen zählenden Ortes im Rhein-Neckar-Kreis. Seine Schwerpunkte: die Zeit der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Über eine gemeindespezifische Struktur-, Demografie- und Ökonomie-Analyse, die auch alle politischen Parteien und deren reichs- bzw. landesweite Wahlergebnisse umfasst, arbeitet sich der Autor zum ersten Kapitel „Unruhige Zeiten“ vor. Darin wird ein Bogen gespannt von der ab 1929 im ganzen Land eskalierenden rohen und blutigen, bürgerkriegsähnlichen Gewalt zu der südlich von Heidelberg gelegenen Kleinstadt, in der damals nicht einmal 5.000 Menschen wohnten; überwiegend Bauern, Handwerker:innen und organisierte und aktive Arbeiter:innen. Als erste militant ausgetragene Auseinandersetzung nennt er jene „vor der Reichstagswahl am 14. September 1931“, als sich „in Walldorf zwei so genannte Klebekolonnen von NSDAP und KPD ins Gehege“ kamen. Dabei ging es um die besten Anschlagsflächen für Wahlplakate; am Ende der nächtlichen Auseinandersetzung waren zahlreiche Verletzte zu beklagen.

Von da an geht es so weiter bis zum verhängnisvollen 30. Januar 1933: Da gibt es „nach der Wahl zum Walldorfer Gemeinderat am 7. August 1931 … heftige Auseinandersetzungen zwischen Nazis und Anhängern der KPD“; da gibt es ein „Gauturnfest, das vom 2. bis zum 4. Juli 1932 in Walldorf stattfand … [und bei dem] es zu verbalen Auseinandersetzungen und Schlägereien zwischen Nazis und Kommunisten“ kam; da gibt es durchgehend eine „Justiz der Weimarer Republik, [die] auf dem rechten Auge blind war“.

Solche Blindheiten (in) der parlamentarischen Demokratie kamen auch in Walldorf letzten Endes ausschließlich der NSDAP und ihrer äußerst gewalttätigen Massenbewegung zugute; ihre fanatisierten Teile konnten faktisch straffrei agieren, wüten, terrorisieren. Sie passten auch zu den Vorstellungen der Faschisten vom demokratischen Verfassungsstaat: Für sie war er aufgrund seiner pluralistischen Strukturen ein zerrissener und „schwacher“ Staat, in dem es zu „überwintern“ galt – bis zum „Tag der Erlösung“ durch den „Heilsbringer“ Hitler. Den Nazis war klar: Sollte man der NSDAP – als wählbare, also demokratisch legitimierte Partei nach erfolgreicher Unterwanderung der republikanischen Institutionen – die Macht übertragen, dann würden sie eben diese Strukturen sofort auflösen. Strukturen, die es ihnen eigentlich erst ermöglicht hatten, ihre Demagogie, ihre Propaganda, ihre Indoktrination und ihr Alleinherrschaftskonzept als erfolgreichstes Konfliktlösungsmodell darzustellen.

„Gleichschaltung“ nannten sie dies; und der „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler ließ es sich nicht nehmen, auf dem Reichsparteitag der NSDAP im September 1934 den Abschluss der „nationalsozialistischen Revolution“ zu verkünden: Die Volksgemeinschaft hatte nun keine Risse mehr.

Auch nicht in Walldorf: im zweiten Kapitel beschreibt Andy Herrmann die lückenlose Umsetzung dieser Gleichschaltung des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens: Die Nazis – nun an der Macht eines maroden Systems – gingen bis in die kleinsten Ecken des Deutschen Reichs, um jede (potenzielle) Abweichung vom Durchdeklinieren des Führerprinzips auszumerzen. Dabei bedienten sie sich verschiedener Methoden: Entweder quasi-paramilitärisch, indem etwa Sitze von gegnerischen Gemeinderäten „übernommen“ und die Gegner*innen/Kritiker*innen des Nationalsozialismus gnadenlos verfolgt, inhaftiert, gefoltert, ermordet wurden. Oder auch durch langsame Prozesse wie bei der Übernahme der evangelischen Landeskirchen. Oder durch das Schaffen ganz neuer Institutionen wie bei der so genannten Landesbauernschaft. Zudem erzeugten sie eine ekstatisch aufgeladene Massenbewegung mit allgemeingültigen Symboliken, Uniformierung, Großveranstaltungen, einer Ideologisierung der Sprache, omnipräsenten „Feinden der Bewegung“ und dem alles bestimmenden Führerkult.

Walldorf ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die Veranschaulichung der Funktionsweisen all dieser Ebenen. Anhand umfangreichen Quellen- und Bildmaterials seziert der Autor die Situation vor Ort: von den „wichtigsten Parteifunktionären auf lokaler Ebene“, über die paramilitärische Kampfgruppe der NSDAP, bis hin zum „Instrument zur Umsetzung des NS-Rassenwahns“. Zu sprechen kommt er dabei auf das Fluten der Gemeinde mit Symbolen der „Machtergreifung“, die Einführung des NS-Festkalenders, das „Braune Haus“ in der Heidelberger Straße – und den ersten Höhepunkt brutaler Maßnahmen gegen politische Gegner:innen: Am 26. Juni 1933 wurden 13 Männer, „fast alle Anhänger der Kommunistischen Partei, mit Gewalt von SA und SS aus ihren Wohnungen geholt und in die Scheuneneinfahrt des Hotels Astoria an der Drehscheibe verschleppt“, wo sie „bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt“ wurden. Im Oktober desselben Jahres folgten Festnahmen, Gefängnisverbringungen und KZ-Inhaftierungen.

Der Autor nimmt sich auch alle Institutionen und Einrichtungen vor, die in Walldorf „gleichgeschaltet“ wurden: Schulen, Sportvereine, der Schützenverein, die Stadtkapelle, der Gesangverein, die Kirchengemeinden, die Gewerkschaften usw. Auch der Hitlerjugend, dem Bund Deutscher Mädel, dem HJ-Dienst, der NS-Frauenschaft sind jeweils eigene Kapitel gewidmet.

Die Publikation endet mit ausführlichen Betrachtungen zum grassierenden Antisemitismus, zum Novemberpogrom von 1938, zu Denunziantentum, Opportunismus, aber auch zum Zivilen Ungehorsam u.v.m. In großem Umfang würdigt er gerade dem (in die Illegalität getriebenen) antifaschistischen Widerstand von oppositionellen Gruppen oder anderen Zusammenschlüssen oder Einzelpersonen in Walldorf. Dass es ihnen trotz der teilweise heftigen Widerständigkeit  nicht gelang, die – wie Herrmann es nennt – „Vereinnahmung, Vereinheitlichung und Beherrschung jeglichen gesellschaftlichen und politischen Lebens“ zurückzudrängen hatte mehrere Gründe: Der  durchschlagende Erfolg des an die Macht beförderten Faschismus habe natürlich auch in Walldorf nicht ausschließlich an der vermeintlich genialen Gleichschaltungs-Konzeption der NSDAP gelegen, sondern auch an der Bevölkerung selbst, die sich nun „wachgerüttelt“ sah.

Am Ende gab es dann – auf der Seite der noch „Gleichzuschaltenden“ – doch zu wenig Solidarität mit Antifaschist:innen, zu viel Wegschauen, zu viel Konformismus, zu viel Gelegenheit zur Selbstbereicherung am Eigentum der Ausgegrenzten und Vertriebenen, zu viel Zurverfügungstellung von Infrastruktur, zu viel Begeisterung für die, die jetzt „aufräumen“ werden, zu viel Mitmachen.

An Herrmanns Arbeit wird man in Zukunft nicht vorbeikommen, wenn man verstehen will, wie „Gleichschaltung“ selbst in der badischen Provinz perfekt funktioniert hat – und erneut „funktionieren“ könnte; was uns dazu bringt, Primo Levis Sentenz mit einem Zusatz zu versehen: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“ Überall!