Ein Justizopfer im „Dritten Reich“
1. August 2024
AN24-3, Buchbesprechung, Gedenken, Geschichte
Im folgenden dokumentieren wir den Artikel aus den Antifa Nachrichten 24-3. Für weitergehend Interessierte dokumentieren wir auf dieser Website ebenfalls die längere Rohfassung des Autors (hier nachlesbar)
Der Fall Elisabeth Sztwiertnia – Ein Beitrag zur historischen Erinnerungsarbeit
Im Mai 2023 brachte der „Verlag Iris Förster“ eine Studie Wolfgang Zabrzynskis heraus, die sich dem Schicksal seiner Großtante, Elisabeth Sztwiertnia, widmet. Das Heft ist über den Waiblinger Verlag erhältlich.
Dem Autor fielen 1985 die beiden letzten Briefe seiner Großtante aus deren Haft in die Hände. Ihr Schicksal war zum Familiengeheimnis geworden. Zabrzynski begann zu recherchieren. Er erhielt damals von der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg das Urteil des Volksgerichtshofs; gleichzeitig gab diese das Verfahren gegen den aus ihrer Sicht letzten überlebenden Beteiligten an diesem Urteil, Herrn Heinz Heugel, erster Staatsanwalt beim Volksgerichtshof, an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin ab. Dort wurde das Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit Heugels eingestellt.
Ende 2020 stellte Zabrzynski fest, dass ihm 1985 wesentliche Unterlagen nicht ausgehändigt worden waren. So wurde beispielsweise gegen weitere Tatbeteiligte in Troppau wie einen Gestapo-Mitarbeiter oder den örtlichen Ermittlungsrichter erst gar nicht weiter ermittelt.
Die zusammengestellte „historische Erinnerungsarbeit“ soll laut Zabrzynski deutlich machen, „[…] wie leicht ein ganz normales, eher zurückgezogenes Leben vom Räderwerk der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erfasst und vernichtet werden konnte und wie schwer sich die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz damit tat, solche Verbrechen aufzuklären oder gar zu sühnen.“
Im Heft erläutert der Autor die Rolle des Massenmordes als Weltanschauung. Dies macht er an den Inhalten von „Eroberungskrieg und Judenvernichtung“ fest. Diesem mörderischen Ziel war alles andere unterzuordnen. „Justizmord“, die Einrichtung des „Volksgerichtshofes“ und die Einrichtung der „Gestapo“, die auch auf das Denunziantentum setzte, waren die logische Folge.
Elisabeth Sztwiertnia wurde am 26.03.1905 in Troppau – heute bekannt als das tschechische Opava – geboren. Zwei Jahre später kam ihre Schwester Maria zur Welt. Wegen des Todes ihres Vaters wurden beide Mädchen bereits sehr früh einem Vormund zugeteilt. Elisabeths Schulausbildung endete mit dem Besuch der Handelsschule in Troppau. Sie wird in dieser Zeit als sehr lebenslustige junge Frau beschrieben. Sztwiertnia nahm eine Arbeit bei einer Filmzeitung in Wien auf. 1926 wechselte sie als Kassiererin zu einer jüdischen Firma in Berlin. 1929 kehrte sie nach Troppau zurück, ebenfalls zu einer jüdischen Firma. Zu ihrem Freundeskreis zählte neben dem jüdischen Ingenieur Viktor Potaravsky laut Gerichtsakten auch die jüdische Frau eines Troppauer Lehrers.
Nach der Einverleibung des Sudetenlandes ins „Deutsche Reich“ wurde die Firma „arisiert“. Viktor Potaravsky musste daraufhin wahrscheinlich nach England fliehen, Elisabeth Sztwiertnia wurde nervenärztlich behandelt. Am 13.12.1938 nahm sie beim Oberbürgermeister von Troppau eine Arbeit als Kanzleikraft an.
Das „Vergehen“
Zabrzynski bezieht sich auf eine Vermutung, dass seit 1944 regelmäßig eine Gruppe englischer Kriegsgefangener an der Wohnung von Elisabeth Sztwiertnia vorbeimarschierte. Sie wurde seit Februar 1944 von einem Spitzel dabei beobachtet, versucht zu haben von ihrem Fenster aus Kontakt zu den Engländern herzustellen. Am 31.03.1944 lief sie einem Gefangenentrupp hinterher, um einem Engländer „Zettel und Pappdeckel“ zu übergeben, die u.a. Hitler am Galgen und eine englische Flagge zeigten. Ob sie eine Botschaft an Viktor Potaravsky übergeben wollte, muss offen bleiben. Der Übergabeversuch misslang. Elisabeth wurde an die Gestapo übergeben.
Am 03.04.1944 wurde sie dem örtlichen Ermittlungsrichter des Volksgerichtshofs vorgeführt. Das Netzwerk der Hitlerfaschisten lenkte den Prozess sofort in die „richtigen Bahnen“. Am 13.04.1944 intervenierte die regionale NSDAP-Führung im Prozess mit den Worten: „Im Auftrag des Gauleiters bitte ich Sie, das Strafverfahren […] mit möglichster Beschleunigung durchzuführen.“
Am 10.05.1944 beantragte der Reichsanwalt vor dem Volksgerichtshof die Eröffnung des Hauptverfahrens. Der Gegenstand: Feindbegünstigung nach § 91b StGB. Der in der Anklage unterstellte Kontakt mit dem Kriegsgefangenen konnte indessen nicht bewiesen werden. Als besonders verwerflich wurden Elisabeth Sztwiertnias Kontakte zu Juden dargestellt.
Im Urteil vom 14.06.1944 wurde eine „Wehrkraftzersetzung“ konstruiert. Dies war übliches Verfahren, um Bagatelldelikte mit der Todesstrafe zu ahnden.
Stationen einer Hinrichtung
Beide Schwestern reichten Gnadengesuche ein. Außerdem bat Elisabeth Sztwiertnia ihre Pflichtverteidigerin dreimal um einen Besuch, der ihr aus „dienstlichen Gründen“ verweigert wurde. Die Ablehnung der Gnadengesuche wurde ihr am 11.08.1944 um 11:30 Uhr mitgeteilt, um 13:00 Uhr wurde das Todesurteil vollstreckt.
Dem Autor der 32-seitigen Erinnerungsbroschüre ist ausdrücklich für seine umfangreichen Recherchen zu danken, ebenso dafür, dass er das Geschehen und deren Nichtaufarbeitung durch die deutschen Behörden nach 1945 in den passenden geschichtlichen und politischen Rahmen eingeordnet hat. Der letzte Wunsch der Hingerichteten an ihre Schwester lautete: „Ich wünsche Dir eine bessere Zukunft, das ist mein letzter Gedanke.“ Dieser Wunsch ist eine Aufforderung an uns Nachgeborene: „Nie wieder Faschismus!“