Unrechtssprechung in Freiburg
29. Oktober 2024
AN24-4, Buchbesprechung, Geschichte
Das hier besprochene Buch ist das Ergebnis einer jahrelangen umfassenden Fleiß- und für einen Juristen ungewöhnliche Recherchearbeit: Thomas Kummle, bis zum Sommer 2020 Präsident des Amtsgerichts Freiburg, hat in akribischer Archivforschung Dokumente gefunden, aus denen hervorgeht, dass in dem Gebäude am Kartoffelmarkt Prozesse stattfanden, die über die übliche Unrechtssprechung in der Nazizeit hinausgingen: Hier tagten drei spezielle NS-Gerichte: Das Sondergericht Freiburg, das Reichskriegsgericht und sogar der berüchtigte Volksgerichtshof; das war an keinem anderen Justizstandort im heutigen Baden-Württemberg der Fall. Das Sondergericht verhandelte sein erstes Strafverfahren am 13. Oktober 1939, das Reichskriegsgericht war ab Dezember 1943 und der Volksgerichtshof ab Mai 1944 in Freiburg.
Anhand der zutage geförderten Dokumente hat Kummle noch vor seiner Pensionierung eine Ausstellung namens „NS-Justiz in Freiburg“ konzipiert, die einiges Licht in diese dunkle – und 70 Jahre lang verdunkelte – Zeit bringt: Erst im Jahr 2015 erhielt er einen Hinweis des Vereins „Souvenir Français“, dem zufolge das Reichskriegsgericht im Justizgebäude am Holzmarkt Verfahren gegen inhaftierte französische Widerstandskämpfer geführt hatte. Verbunden war dieser Hinweis mit dem Vorschlag, am Gefängnis eine Gedenktafel für Édouard Kauffmann, Emile Pradelle und Jean Lordey, anzubringen, die als Mitglieder des Réseau Alliance am 28. November 1944 dort ermordet worden waren – ohne Gerichtsurteil.
Das war der Anlass für Kummles Forschungen, in deren Verlauf er „die überraschende Entdeckung“ machte , dass auch der Volksgerichtshof hier Sitzungen abgehalten hatte. Die Ergebnisse seiner Recherchen sind auf 13 informativen Tafeln mit faksimilierten Originaldokumenten und -fotografien zu sehen, die seit Dezember 2020 dauerhaft an den Wänden des langen Korridors zum historischen Schwurgerichtssaal angebracht sind, in dem bis 1945 auch zahlreiche Tordesurteile gefällt wurden. Im Dezember 2023 erschien der von ihm herausgegebene und in einem Freiburger Verlag publizierte gleichnamige „Katalog zur Ausstellung“, wie der bescheidene Untertitel lautet.
Es ist indessen mehr als ein Katalog: Hier wird – In Kooperation mit dem Historiker Michael P. Hensle und dem Staatsanwalt Dominik Stahl – erstmals eine wichtige, bisher wenig beachtete Facette nicht nur der Freiburger Stadtgeschichte umfassend aufgearbeitet und analysiert, sondern auch das Wirken der NS-Justiz in ganz Südbaden. Dokumentiert und erläutert werden zahlreiche einzelne (Schein)Verfahren, für die diese drei „Ausnahme-Gerichte“ zuständig waren. Recht ausführlich und kritisch wird überdies auch der weitere Werdegang der Richter der NS-Justiz nach 1945 thematisiert – und der Umgang der neuen Justiz mit den neu „Entnazifizierten“.
Während beim Sonder- und Reichskriegsgericht lediglich einige exemplarische Fälle detailliert dargestellt werden, sind alle zehn nach derzeit erschlossenem Aktenstand bekannten Verfahren und Urteile des Freiburger Außenstelle des Volksgerichtshofs einzeln und mit den Namen der Opfer dokumentiert. Insgesamt wurden im Jahr 1944 an diesem „Instrument des Justizterrors“ 13 Anklagen verhandelt, doch nicht alle befinden sich in den Strafakten des Bundesarchivs. Gegenstand der Verhandlungen gegen 26 Angeklagte war u.a. „Kennkartenbeschaffung für flüchtige Franzosen“, „Partei- und Staatsabträgliche Äußerungen“, außerdem „Feindbegünstigung, Landesverrat, Hochverrat und Wehrkraftzersetzung“. Für diese „Verbrechen“ wurden 6 Todesurteile gefällt, die im Zuchthaus Bruchsal vollstreckt wurden. Für elf Angeklagte wurden langjährige Zuchthausstrafen verhängt, sieben wanderten ins Gefängnis – jeweils mit der Option, anschlie0eßend in ein KT eingewiesen zu werden. Mit Freispruch kamen lediglich zwei Menschen davon.
Zu den wegen Feindbegünstigung und Vorbereitung zum Hochverrat „für immer ehrlos erklärten“ und zum Tod Verurteilten gehörte der aus Wuppertal stammende Spanienkämpfer und Kommunist Eugen Schwebinghaus, er wurde am 24. August 1944 in Bruchsal hingerichtet.
Roland Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs, war nach Kenntnis Tomas Kummles bei keiner Verhandlung in Freiburg anwesend. Sein Vertreter war Landgerichtsdirektor Martin Stier. Der Senat wurde durch den zweiten Berufsrichter Erich Schlemann sowie durch drei „Volksrichter“ komplettiert. Volksrichter waren regimetreue Laienrichter und gehörten der NSDAP und deren Gliederungen an. Anders als heutige Schöffen waren sie also alles andere als unabhängig. Im Buch sind indessen nicht nur diese beiden Namen erwähnt, sondern tatsächlich die Namen sämtlicher Richter und Staatsanwälte, die an den Verfahren dieser drei NS-Terrorgerichte beteiligt waren.
Genannt werden auch die Namen aller Menschen, die vor das Reichskriegsgericht gezerrt wurden.
Zu diesen gehören auch die 67 Mitglieder des Netzwerks „Réseau Alliance“, denen hier wegen des Vorwurfs der Spionage in 27 Militärgerichtsverfahren ein „ordentlicher“ Prozess gemacht wurde. 58 von ihnen wurden zum Tode verurteilt, die anderen zu langjährigen Freiheitsstrafen. Freisprüche gab es nicht. In den Listen der Freiburger Verfahren sind nach Kummles Auskunft zudem 47 Angehörige des Réseau Alliance aufgeführt, die ohne Gerichtsverhandlung entweder in Konzentrationslager verschleppt oder direkt ermordet wurden. Sie waren im Zusammenhang mit dem von Hitler persönliche verfügten Nacht-und-Nebel-Erlass verhaftet worden. Dieses „gesetzlich geregelte spurlose Verschwindenlassen politischer Gegner war ein Mittel zur Terrorisierung, das auch gegen den französischen Widerstand eingesetzt wurde“, schreibt der Autor im Vorwort.
Von den über 1000 Angeklagten, denen am Sondergericht Freiburg der Prozess gemacht wurde, sind wegen der hohen Zahl lediglich die Namen der zum Tode Verurteilten zur Erinnerung festgehalten. Und das sind nach derzeitigem Kenntnisstand 29 Menschen.
Die strafrechtliche Ahndung dieser und anderer NS-Justizverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland könne, so ein Fazit des Buchs, „nur als gescheitert qualifiziert“ werden: Letztlich sei kein NS-Justizjurist, der Todesstrafen beantragt oder gefällt hatte, rechtskräftig belangt worden. Die in Baden-Württemberg im Juli 1960 eingesetzte Kommission zur Überprüfung von Vorwürfen gegen Richter und Staatsanwälte wegen ihrer früheren Tätigkeit bei Sondergerichten habe nach der Sichtung von Todesurteilen in der Regel von strafrechtlichen Schritten abgeraten. Grundlage hierfür „war insbesondere auf der damaligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die praktisch zu einem Ausschluss der Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung für ehemalige NS-Richter führte“.
Diese Rechtsprechung war auch Folge einer hohen personellen Kontinuität im Justizbereich: Der Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder, so Kummle, „war in den fünfziger und sechziger Jahren an manchen Gerichten höher als im Jahr 1939. Das „131er-Gesetz“ – beruhend auf Artikel 131 Grundgesetz – machte im Jahr 1951 die politisch motivierte Entlassung vieler Beamten und Richter wieder rückgängig und gewährte diesen einen Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung“. Dazu seien viele verharmlosende Stellungnahmen und Leumundszeugnisse in den Entnazifizierungsverfahren gekommen, die nach Kummles Worten „ lediglich als Legendenbildung zu qualifizieren sind“.
So bezeichnete sich etwa der für die Freiburger Sondergerichtsverfahren zuständige Oberstaatsanwalt Eugen Weiß als aktiven Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, und der allein an acht Todesurteilen beteiligte Sonderrichter Franz Xaver Künstle begehrte Wiedergutmachung als NS-Opfer, weil er in der NS-Zeit nicht befördert worden sei. Tatsächlich „waren beide Exponenten der menschenverachtenden NS-Justiz“.
Thomas Kummle (Hrsg.): NS-Justiz in Freiburg
Katalog zur Dauerausstellung im Amtsgericht Freiburg
Rombach-Verlag 2023
248 Seiten, Broschur, Preis: 18 Euro