Im Osten nichts Neues … ?

geschrieben von Rüdiger Jungkind

29. Oktober 2024

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Einordnung eines eskalierenden Konflikts in historische Zusammenhänge

Zu Ursache und Anlass eines Krieges:

Das wichtigste Kriterium ist die Unterscheidung zwischen Ursache und Anlass. Wenn man diese Unterscheidung trifft, relativiert sich sehr schnell die Aussage, man sei in den ersten Weltkrieg „hineingeschlittert, ohne ihn zu wollen.“

Ursache war der sich verschärfende Konkurrenzkampf zwischen den damaligen Weltmächten: Das Vereinigte Königreich, das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, Frankreich, das russische Zarenreich und den USA. Dabei waren besonders das Deutsche Reich und die USA, aber auch Frankreich an einer Änderung der globalen Machtstruktur interessiert. Das Deutsche Reich strebte bekanntermaßen nach „einem Platz an der Sonne“. Gegensätzlich war die Interessenlage der Briten, die ihr Reich, „in dem die Sonne niemals untergeht“, behaupten wollten.

Der Anlass ist bekannt: Der Mord an Prinz Ferdinand und dessen Gattin Sophie am 28. Juni in Sarajewo durch einen bosnisch-serbischen Nationalisten.

Es gibt heute keinen ernsthaften Dissens unter Historikern darüber, dass auch jeder andere Anlass zu einem Weltkrieg hätte führen können. Beispiel: im April 1914 erwog die deutsche Reichsregierung, Waffen nach Mexiko zu liefern, um das mittelamerikanische Land zu einem Krieg gegen die USA aufzustacheln (der Eroberungskrieg, den die USA gegen Mexiko führten, war in den Köpfen der Menschen noch präsent). Diese Idee scheiterte.

Der Mord in Sarajewo diente Österreich-Ungarn als „Rechtfertigung“ für ein Ultimatum an Serbien, dessen Annahme de facto die Aufgabe Serbiens als eigenständige Nation zur Folge gehabt hätte. Der Einmarsch der Kaiserlichen Armee Deutschlands nach einer Welle von gegenseitigen Kriegserklärungen ins neutrale Belgien diente den Briten als „Rechtfertigung“ dafür, in den Krieg einzutreten und 16-jährige Waliser und Iren abschlachten zu lassen.

Bezeichnend ist auch das Ende des 1. Weltkriegs durch den „Versailler Vertrag“. Hier wurde von der Alleinschuld Deutschlands ausgegangen. Sehr viel Mühe brachten die „Westmächte“, also das Vereinigte Königreich, Frankreich und die USA,  für die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen auf; die Grenzziehung im Osten Europas interessierte sie nur am Rande (vgl. „Curzon-Linie“). Folge war eine Verschärfung von schon bestehenden Konflikten für weitere Kriege und antisemitische Pogrome, die nicht nur bei der Entstehung des 2. Weltkriegs eine Rolle spielten (Deutschland gegen Polen), sondern auch zur inzwischen fernen Vorgeschichte des heutigen Ukraine-Kriegs gehört.

Fazit:

Der Mord in Sarajewo war ein Politikum, dass für globale Interessen herhalten musste. Zeitzeugen wie z.B. der österreichische Autor Stefan Zweig haben unmittelbar nach diesen Ereignis niemals mit dem Ausbruch eines Weltkrieges gerechnet. Es ist (nahezu) unbestritten, dass für das historische Verständnis die Analyse der Ursachen entscheidend ist. Eine Fakteninterpretation ist etwas anderes als die „Rechtfertigung“ des Handelns, das darauf basiert.

Kurze Chronologie kriegerischer Entwicklungen in Europa:

Es ist schlicht falsch, dass „Europa“ vom 8. Mai 1945 bis zum 24. Februar 2022 immer und ausschließlich ein „Projekt des Friedens“ war.

Am 9. Mai 1945 wollten große Teile der Bevölkerung Algeriens das Land für unabhängig erklären. Frankreich intervenierte als Kolonialmacht noch am selben Tag mit militärischen Mitteln. Offiziell begann der Algerienkrieg allerdings erst am 1. November 1954. Der Algerienkrieg dauerte bis zum 18. März 1962 und hatte die Unabhängigkeit Algeriens zum 1. Juli 1962 zur Folge.

Am 15. Juli 1974 stürzte die griechische Junta Zyperns Präsidenten Makarios. Ziel war unter anderem, den unabhängigen Inselstaat an Griechenland anzuschließen. Daraufhin  intervenierte die türkische Armee am 20. Juli 1974 und besetzte Teile der Insel. 1983 wurde die türkische Republik „Nordzypern“ ausgerufen, diese wird bis heute nur von der Türkei international anerkannt. Es ist unumstritten, dass die türkische Militärintervention völkerrechtswidrig war.

Vom 24. März 1999 bis zum 10. Juni griff die NATO die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) an. Da keine Zustimmung im UNO-Weltsicherheitsrat zu erwarten war, wurde dieses Gremium nicht konsultiert. Somit ist dieser Krieg ebenfalls als völkerrechtwidrig zu werten. Der pazifistisch orientierte Journalist Andreas Zumach resümierte resigniert: „Die NATO wollte den Waffengang.“

Diese Kriege, in Mitteleuropa schon beinahe vergessen, die global sicher nicht die wichtigsten mit europäischer Beteiligung waren, haben der Reputation (West-) Europas als friedliebendes Projekt geschadet.

Nicht verschwiegen werden dürfen auch die Militärinterventionen der UdSSR in Ungarn (1956) und in der CSSR (1968), letztere mit Unterstützung anderer Armeen der Warschauer Vertragsstaaten. Diese Interventionen haben ihrerseits der Reputation der UdSSR weltweit geschadet und wirken sich bis heute auf die Einstellung vieler Osteuropäer zu den „Russen“ aus.

1990 und die Folgen:

Unbestritten ist, dass das Projekt „des gemeinsamen Hauses Europas“, das von Michail Gorbatschow (1931-2022), seit 1985 sowjetisches Staatsoberhaupt, unter großem internationalem Beifall seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre propagiert wurde, nicht zustande kam. Der „2+4-Vertrag“, der zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, den USA, der UdSSR, Frankreich und Großbritannien verhandelt und abgeschlossen wurde, war jedoch von diesem Geist erfüllt. Dennoch: die NATO bestand weiter. Die Zerfallserscheinungen in der UdSSR und ihrer Verbündeten waren so weit fortgeschritten, das die Machtbasis dieser Staaten nicht ausgereicht hätte, um deren Auflösung durchzusetzen. Die Warschauer Vertragsorganisation, das Bündnis, das noch die UdSSR, Polen, die CSR, Ungarn, Bulgarien und Rumänien umfasste, löste sich zum 1. Juli 1991 offiziell auf.

Von westlicher Seite gab es während der Verhandlungen zum „2+4-Vertrag“ das Versprechen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Schriftlich fixiert wurde das Versprechen nicht.

Die Ukraine erklärte am 24. August 1991 ihre Unabhängigkeit. Ende des Jahres zerfiel die UdSSR endgültig.

Exkurs:

„Europastrategien des deutschen Kapitals“ (Reinhard Optiz (1934-1986)), Analysen aus den USA:

Im Mai 1976 veröffentlichte Opitz eine umfangreiche Quellensammlung, die die Zeit von 1841 bis 1945 erfasst. Dieses Werk ist im Hinblick auf das Verständnis des Handelns der Bundesrepublik Deutschland auch heute in vielerlei Hinsicht sehr lesenswert.

Für die Haltung des deutschen Kapitals zum russischen Zarenreich insgesamt und zur Ukraine im Besonderen ist die „Orangentheorie“ Paul Rohrbachs (1869-1956) interessant. Sie besagt in etwa, man könne das russische Reich leicht wie eine Orange zerlegen, um es anschließend militärisch zu besiegen. („Alles große Leben in Russland muss versiegen, wenn der Feind die Ukraina packt.“) Seine antirussische Einstellung fand im damaligen Deutschen Reich keine ungeteilte Zustimmung: Politische Gegner warfen ihm unter anderem vor, er sei der „Erfinder der Ukraine“. Dieser Vorwurf war jedoch insofern unberechtigt, weil es in der Tat Teile der Bevölkerung in der Ukraine gab, die eine Loslösung vom russischen Zarenreich befürworteten. Die faschistische Regierung des Deutschen Reiches brachte die Orangentheorie später auf den Punkt: „Russland ist ein Koloss auf tönernen Füßen!“

Man kann davon ausgehen, dass „moderne“ politische Strategen die Werke Paul Rohrbachs kennen. So z.B. die US-Amerikaner Zigbiniew Brzezinski (ehemaliger Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, 1928-2017), und Samuel Huntington (Politikwissenschaftler, 1927-2008).

Samuel Huntington („The Clash of Civilisations, New York 1996“), hier zitiert nach der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, „Der Kampf der Kulturen“,Wien 1996 (Seite 264) führt aus:

„Die Ukraine ist … ein gespaltenes Land mit zwei Kulturen. Die kulturelle Bruchlinie zwischen dem Westen und der Orthodoxie verläuft seit Jahrhunderten durch das Herzen des Landes.“

Zur West- und Ostukraine schreibt er:

„Ein sehr großer Teil (Anmerkung: der Satz von Huntington bezieht sich auf die westukrainische Bevölkerung) bekennt sich zur Unierten Kirche … Seit jeher haben die Westukrainer Ukrainisch gesprochen und sind stark nationalistisch eingestellt. Das Volk der Ostukraine war dagegen stets ganz überwiegend orthodox und sprach immer schon zu einem großen Teil russisch. Russen machen 25 Prozent, russische Muttersprachler 31 Prozent der ukrainischen Gesamtbevölkerung aus. … Die Krim ist überwiegend russisch und war Teil der Russischen Föderation bis 1954 …“

1997 schrieb Brzezinski („The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“):

„Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Russland seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war.“ – „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ – „Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch.“ Ohne den von diesen US-amerikanischen Vordenkern vor dreißig Jahren umrissenen globalen Hintergrund kann der Konflikt um die Ukraine nicht verstanden und vor allem: nicht friedlich gelöst werden. Dazu bedarf es auch einer Darstellung, wie Russland agiert hat.