Nicht spurlos verschwunden
29. Oktober 2024
Vor 80 Jahren wurden französische AntifaschistInnen des Réseau Alliance ermordet
„Ich kann mich heute nicht erinnern.“
Gestapo-Chef Helmut Schlierbach, Strasbourg
Als Marie-Madeleine Fourcade und Ferdinand Rodriguez kurz nach der Kapitulation des Nazi-Regimes eine Reise ins Elsass und nach Südwestdeutschland antraten, um nach Spuren ihrer ermordeten Kameradinnen und Kameraden zu suchen, waren sie innerlich bereits auf furchtbare Entdeckungen vorbereitet. Aus eigener Erfahrung: Die Französin Fourcade hatte seit Juli 1941 das während der Okkupation Frankreichs gegründete Résistance-Netzwerk Réseau Alliance geleitet und war nach Verhaftungen zweimal aus den Klauen der Gestapo entkommen. Den britischen Geheimdienst-Funker Rodriguez hatte man nach seiner Verhaftung vor dem in Freiburg ansässigen Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Nach einer Odyssee durch deutsche Kerker war er durch einen Agententausch jedoch überraschend freigekommen.
Gegründet wurde das Spionage-Netzwerk, dem Fourcade und Rodriguez angehörten, im August 1940 vom konservativen Major Georges Loustaunau-Lacau, der bereits vor der Invasion Frankreichs vor Hitlers Kriegsplänen gewarnt hatte. Nachdem die Nazi-Truppen Paris erobert hatten und mit Maréchal Petain ein Kollaborateur des NS-Regimes die Macht in Vichy-Frankreich übernahm, wuchs das Netz nach und nach auf über 3000 Widerstandskämpferinnen und -kämpfer an. L`Alliance versorgte hauptsächlich den britischen Geheimdienst MI6 mit Informationen über geheime Rüstungsprojekte im Reich, deckte Befestigungsanlagen und Truppenbewegungen der Wehrmacht auf, leitete Erkenntnisse über die deutschen V-2-Raketen weiter und verhalf politisch Verfolgten und jüdischen Menschen zum Untertauchen oder zur Flucht. In der dritten Rekrutierungs-Welle (1943-1944) wurde der Agent Robert Douin gewonnen, der eine handgezeichnete Karte der deutschen Befestigungsanlagen an den französischen Atlantikküsten erstellte und somit der als D-Day bezeichneten alliierten Landung in der Normandie zuarbeitete.
Setzte sich die Gruppe zunächst hauptsächlich aus hohen Militärs und Regierungsangestellten zusammen, wurden bald Menschen aus allen sozialen Schichten für das Réseau Alliance rekrutiert. Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als ein Viertel der Mitglieder der Gruppe Frauen waren. Die organisatorische Nähe zum britischen und amerikanischen Geheimdienst machte das Netz zum gefährlichsten Gegner der deutschen Spionageabwehr. Mit viel Aufwand und großer Brutalität verfolgten SD, Gestapo, Abwehr und die Polizei des Vichy-Regimes die Agentinnen und Agenten dieser Résistance-Gruppe. Da die Mitglieder der Alliance Tiernamen als „nom de guerre“ gewählt hatten, firmierte die Gruppe bei den NS-Verfolgungsbehörden unter der Bezeichnung „Arche Noah“.
Im Juli 1944 steigerten die Repressionsorgane der Nazis den Verfolgungsdruck. Sie verhafteten, folterten und exekutierten hunderte Mitglieder des Widerstandsnetzes links und rechts des Rheins. Im Dezember 1943 begannen vor dem 3. Senat des Reichskriegsgerichts in Freiburg die Prozesse gegen 67 Angehörige des Réseau Alliance. Gegen 58 von ihnen verhängten die Richter Todesurteile, in weiteren Fällen mehrjährige Zuchthaus- und Gefängnisstrafen. Grundlage der Verhandlungen war der sogenannte „Nacht-und-Nebel“-Erlass Hitlers von 1941, wonach vor allem „kommunistische Elemente“ und „deutschfeindliche Kreise“ in den besetzten Gebieten heimlich ins Reich verschleppt und dort eliminiert werden sollten. Zahlreiche Akten der Alliance-Angeklagten waren durch das entsprechende Kürzel „NN“ gekennzeichnet.
Bevor Marie-Madeleine Fourcade und Ferdinand Rodriguez auf ihrer Reise ins post-faschistische Deutschland den Rhein überquerten, erfuhren sie in den Vogesen von einem grauenhaften Verbrechen: Kurz nach der Befreiung von Paris hatte der Gestapo-Chef von Strasbourg, Helmut Schlierbach, aus Berlin die Order erhalten, mit drastischen Aktionen gegen die Gefangenen des Réseau Alliance vorzugehen. Angesichts der vorrückenden alliierten Truppen sollte um jeden Preis verhindert werden, dass die Résistance-Mitglieder befreit werden könnten. Auf seinen Befehl wurden 107 von ihnen in der Nacht zum 2. September 1944 vom „Sicherungslager“ Schirmeck-Vorbrück in das KZ Natzweiler-Struthof verbracht und dort von SS-Einheiten per Genickschuss ermordet. Zur Beseitigung der Spuren dieses Verbrechens wurden die Leichen der Opfer im Krematorium des Lagers verbrannt. Fourcade und Rodriguez erfuhren von ehemaligen Gefangenen, dass die Schornsteine des Konzentrationslagers nach dem Massaker zwei Tage lang ununterbrochen rauchten.
Wenige Stunden nach der Befreiung Strasbourgs am 23. November 1944 setzte Kriminalkommissar Julius Gehrum, ein fanatischer Nationalsozialist und Gestapo-Beamter, gemeinsam mit dem bisherigen Schirmecker Lagerkommandanten, SS-Sturmbannführer Karl Buck, das Morden fort – auf der anderen Seite des Rheins und ebenfalls auf Befehl von Schlierbach. In der Woche vom 23. bis 30. November suchten sie die sieben Gefängnisse in Baden auf, in denen noch Réseau-Mitglieder inhaftiert waren. Die dort von ihnen begangenen Verbrechen gingen als „semaine sanglante en forêt noire“, als „Schwarzwälder Blutwoche“ in die Geschichte ein.
Erste Station war Kehl. Dort verschafften sich Gehrum und seine Henker Zugang zum Gefängnis, schleppten neun Alliance-Gefangene ans Rheinufer, töteten ihre Opfer per Genickschuss und warfen die Leichen in den Fluss. Am Folgetag (24.11.44) ermordeten sie und weitere überzeugte Nazis in Plittersdorf bei Rastatt weitere zwölf Widerstandskämpfer des Réseau in der Nähe einer Holzbrücke. Am 27. November ermordeten sie im Bohlsbacher Wald in Offenburg vier Netzwerk-Frauen, die seit 1943 ohne Gerichtsverfahren im dortigen Gefängnis saßen. Tags darauf, nach der nächtlichen Bombardierung Freiburgs, richtete Gehrums Mordkommando drei Alliance-Agenten nahe dem Gefängnis per Genickschuss hin und verscharrte sie in einem Bombentrichter.
Am folgenden Morgen (29.11.44.) holten die NS-Täter acht Widerständige aus dem Gefängnis in Bühl, brachten sie nach Greffern, wo sie sie auf ein Boot prügelten und auf die Rheininsel fuhren. Dort erschossen sie sie und warfen sie in den Rhein. Am 30. November schlugen Gehrum und seine gleich zweimal zu: Zunächst wurden die im Sicherungslager Rotenfels bei Gaggenau internierten neun Résistance-Kämpfer auf persönlichen Befehl von Lagerleiter Karl Buck in einem Waldstück exekutiert. Endstation war hernach in Pforzheim, wo es zum entsetzlichsten Verbrechen dieser „Schwarzwälder Blutwoche“ kam. Hier wurden im Walgebiet Hagenschieß acht Frauen und 17 Männer erschossen, die zuvor teilweise bestialisch gefoltert worden waren.
Entgegen der Absicht der Nazis sind diese Menschen nicht spurlos in Nacht und Nebel verschwunden: Alle Namen der Opfer sind erforscht und dokumentiert. An den Hinrichtungsorten befinden sich heute Tafeln oder Stelen, die an das Massaker erinnern. Auch in Karlsruhe, wo bereits im April 1944 zwölf Alliance-Mitglieder ermordet worden waren. Ein grenzüberschreitender „chemin de la memoire“ soll die Erinnerungsorte links und rechts des Rheines verbinden.
Julius Gehrum wurde als einer der wenigen Täter juristisch zur Rechenschaft gezogen. Er wurde vom Strasbourger Militärgericht im Mai 1947 zum Tode verurteilt und exekutiert. Gestapo-Chef Schlierbach wurde zwar in Frankreich verurteilt, von der Bundesrepublik jedoch nicht ausgeliefert; er machte in Folge Karriere beim hessischen Sparkassenverband. Lagerleiter Karl Buck wurde nach kurzer Haft begnadigt und betätigte sich fortan als Hühnerzüchter im Rems-Murr-Kreis.